Aus’m Osten

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

fünf Freunde waren wir im Jurastudium. Meine Gefährten kamen aus Schleswig-Holstein, aus dem Rheinland und aus Bremen. Bloß ich, der ich als einziger unserer Gruppe (und fast als einziger unseres Semesters) aus dem Osten stammte, war wie immer der Außenseiter, getreu dem bekannten Titanic-Motto: „Bist du aus dem Osten/ geht jeder Witz auf deine Kosten.“ Das sollte sich erst ändern, als ich später nach Berlin zog, denn dort waren die „Besserwessis“ endlich mal nicht in der Überzahl… Erst in Berlin ist mir klar geworden, warum ich mich in all den Jahren in Westdeutschland immer etwas unwohl gefühlt habe: Ich gehörte als Ostdeutscher nie richtig dazu, und man ließ es mich auch immer wieder merken.

Gerade habe ich mit 14-jähriger Verspätung das Buch „Zonenkinder“ von Jana Hensel gelesen. Oh ja, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Laut der Autorin gehören insbesondere die Jahrgänge vor 1975 zu den letzten, die noch voll und ganz von der DDR geprägt wurden. Und das kann ich beim besten Willen nicht verleugnen! Meine westdeutschen Altersgenossen der „Generation Golf“ sind mir alles in allem doch sehr fremd geblieben. Und zumindest unbewusst waren und sind sie allesamt der festen Überzeugung, etwas weitaus Besseres zu sein als jemand, der bloß aus dem Osten stammt.

Natürlich hat mich im Westen niemand gezwungen, meine ostdeutsche Herkunft zu offenbaren. Rein sprachlich hätte man es mir vielleicht auch nicht unbedingt angemerkt. Aber, sagen wir, habituell dann mit Sicherheit doch. Vor allem erkennen gelernte Ostdeutsche einander im Westen meist zuverlässig. Niemand Geringeres als die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe sagte mir vor ein paar Monaten nach einem Vortrag, den ich in einer westdeutschen Kleinstadt gehalten hatte: „Man merkt sofort, dass Sie aus dem Osten kommen!“

Letzten Freitag in der heute-show: Oliver Welke teilt aus gegen Alexander Gauland, weil der sich rassistisch über den Fußballspieler Boateng geäußert hat. Keine Frage, es hat schon den Richtigen getroffen. Aber musste Oliver Welke, wie er das leider häufiger tut, auch noch die Ost-West-Karte spielen? „Boateng ist immerhin in Deutschland geboren, in Berlin. Aber Gauland? In Chemnitz.“ Westdeutsche finden sowas sehr lustig. Endlich wird mal ausgesprochen, was sie sich insgeheim ohnehin immer schon denken: „Das sind doch gar keine richtigen Deutschen da im Osten, die gehören doch gar nicht zu uns. (Zu uns, den wahren Deutschen!) Und wenn es nach uns gegangen wäre, hätte man die Mauer auch stehenlassen können.“

In Westdeutschland ist eine solche Haltung bis heute weit verbreitet. Es denkt sich auch keiner was dabei. Mitbürger, die jeden Rassismus weit von sich weisen würden, bemerken offenbar gar nicht, dass sie ihn selbst praktizieren, ja völlig von ihm durchdrungen sind. Sich abfällig über Türken oder Afrikaner zu äußern, so etwas tut ein aufgeklärter Westdeutscher natürlich nicht, das tun nur die tumben AfD-Wähler, die man dann – völlig zu recht – angewidert in die rechte Ecke stellt. Aber über die dummen Ostdeutschen darf man sich doch wohl noch lustig machen, denn schließlich sind sie es doch, die „unsere“ (eigentlich westdeutsche) Willkommenskultur durch immer neue Brandanschläge auf Flüchtlingsheime torpedieren, die sich fortwährend zu fremdenfeindlichen Pegida-Umzügen versammeln, die zu 25 Prozent die AfD wählen, die sich in Umfragen mehrheitlich vor Überfremdung fürchten…

Das Schlimme ist, dass sich viele Westdeutsche sehr gut dabei fühlen, die Vorurteile der anderen mit eigenen Vorurteilen über andere zu bekämpfen. Und wie wehren sich die Schwachen gegen Ausgrenzung? Indem sie sich noch Schwächere suchen, die sie ihrerseits ausgrenzen können, und dabei gleichzeitig noch die ungeliebten Stärkeren so richtig vor den Kopf stoßen können. Denn womit könnte man die Westdeutschen mehr schockieren als mit starken AfD-Wahlergebnissen? (Jedenfalls seitdem die Linkspartei als Schreckgespenst ausgedient hat).

Allerdings kann ich leider auch nicht sagen, dass ich mich unter Ostdeutschen noch besonders wohl fühlen würde. Damals, in meiner Kindheit und frühen Jugend, irgendwie schon. Aber in den beiden letzen zweieinhalb Jahrzehnten habe ich auf Klassentreffen und bei sonstigen Begegnungen mit alten Weggefährten aus dem Osten schon sehr genau gespürt, dass ich keiner mehr von ihnen bin. Anders ist es, Gott sei Dank, wenn man in Berlin lebt, wo sich alles mischt, wo man nicht automatisch Teil eines Kollektivs sein muss, sondern sich immer wieder aufs Neue zu bunten Haufen aus aller Herren Länder zusammenwürfelt.

Berlin war und ist für mich eine einzige Befreiung.

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Jun 6th, 2016 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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