Fortwährende Zersetzung

Im August 1976 verbrannte sich Pastor Oskar Brüsewitz vor der Michaliskirche in Zeitz aus Protest gegen das SED-Regime. Eine aktuelle Dissertation an der Berliner Humbold Universität will nun Belege für Gerüchte gefunden haben, die die Staatssicherheit der DDR schon zu Lebzeiten über den oppositionellen Seelsorger verbreiten ließ

Benedikt Vallendar

Oskar Brüsewitz (1929-1976), streitbarer Geist der frühen DDR-Opposition

Rippicha / Berlin – „Nein, mit der Presse rede ich nicht“, wehrt die junge Frau höflich ab, als sie mit ihrer Mutter auf dem Friedhof von Rippicha das Grab des Vaters besucht. Rippicha ist ein idyllisch gelegenes Dorf im Süden Sachsen-Anhalts. Nebenan ist das Grab von Oskar Brüsewitz, jenem evangelischen Pastor, der sich am 18. August 1976 vor der Michaeliskirche im sechs Kilometer entfernten Zeitz mit Benzin übergoss und anschließend selbst anzündete. Um den „Kommunismus anzuklagen“, wegen der „Unterdrückung von Kindern und Jugendlichen“ an den Schulen der DDR. Fotos der Banderolen, die der damals 47-Jährige zuvor auf dem Dach seines Kombis befestigt hatte, fanden sich nach der Wende in Akten der Staatssicherheit. Ausgerechnet ein zufällig anwesender Lokalfunktionär der Ost-CDU hatte in vorauseilendem Gehorsam dafür gesorgt, dass die Plakate schnell verschwanden, wie Protokolle der Volkspolizei belegen.

Zum vierzigsten Jahrestag der Selbstverbrennung Oskar Brüsewitz‘ hat die Zeitzer Stadtverwaltung am Ort des Geschehens einen Kranz niederlegen lassen, ebenso die Landesregierung von Sachsen-Anhalt. Die junge Frau auf dem Rippichaer Friedhof gibt an, Brüsewitz noch als Kind gekannt zu haben. Mehr wolle sie aber nicht dazu sagen, was zeigt, wie emotionsbeladen das Ereignis auch nach vier Jahrzehnten noch immer ist. Vier Tage nach seiner Tat starb Oskar Brüsewitz, der einst aus Hildesheim in die DDR übergesiedelt war, in einer Hallenser Klinik. Dem Arzt soll er noch geflüstert haben, dass seine Aktion eine „gegen den Kommunismus gerichtete“ gewesen sei, was nicht ohne Folgen blieb. Denn wenige Tage später berichtete auch die ARD ausführlich über die Geschehnisse in der ostdeutschen Provinz. SED-Generalsekretär Erich Honecker erklärte den Vorfall in Zeitz kurzerhand zur „Chefsache“. Ein Pastor, der sich öffentlich das Leben nahm und dafür politische Motive ins Feld führte? Unmöglich im Paradies der Arbeiter- und Bauernmacht! Die SED fühlte sich ertappt und fürchtete, nicht ganz zu Unrecht, dass von der spektakulären Selbsttötung eine Signalwirkung für weitere Proteste ausgehen würde. An Brüsewitz‘ Beerdigung nahmen knapp 370 Trauergäste teil, darunter ausländische Journalisten und der spätere Bundesverkehrsminister Manfred Stolpe (SPD), damals in leitender Funktion bei der evangelischen Kirche in der DDR tätig. Rippicha glich in den Tagen vor und nach der Beerdigung einer Festung und war abgeriegelt von Kräften der Staatssicherheit, die in „jeder Scheune“ saßen, um mögliche Aktionen vor Westkameras schon im Keim zu ersticken, was zeigte, wie ernst die Partei die Sache nahm.

Zu Reaktionen in der Bevölkerung kam es jedoch erst, als am 31. August 1976 im Parteiorgan „Neues Deutschland“ ein diffamierender Beitrag über Oskar Brüsewitz erschien, den zahlreiche Leser mit kritischen Leserbriefen und sogar einer Strafanzeige wegen Verleumdung quittierten. Die SED war überrascht über so viel Protest im eigenen Land und reagierte mit gewohnter Härte, auch Haftstrafen gegen ihre Kritiker.

„Einsamer“ Familienmensch?

An Oskar Brüsewitz scheiden sich bis heute die Geister. Für die einen ist er ein Held im Kampf gegen die SED-Diktatur, für die anderen ein einsamer Landpfarrer, dessen Selbstverbrennung nur Ausdruck seiner „labilen Psyche“ gewesen sei. Jahrelang hatte Brüsewitz lokale Parteibonzen mit allen möglichen Aktionen gepiesackt und auch seine Vorgesetzten wiederholt auf die Palme gebracht. Fast schon legendär geworden sind sein mehrere Kilometer weit leuchtendes Neonkreuz auf der Rippichaer Dorfkirche und der noch immer existierende „Evangelische Kinderspielplatz“, unweit des Pfarrhauses, das der streitbare Pastor zum Mittelpunkt des Gemeindelebens machte. Das Kreuz befindet sich heute im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig und ist in den letzten Jahren so etwas wie eine politische Reliquie der frühen DDR-Opposition geworden; wohl auch, weil immer mehr Historiker und Publizisten Oskar Brüsewitz als geistigen Vater der friedlichen Revolution von 1989 entdecken, ein mutiger Einzelgänger, der dem menschenverachtenden Kommunismus lange vor Gorbatschow die Kante zeigte.

„Brüsewitz hatte keine Freunde und war in seiner Kirche isoliert“, will dagegen Karsten Krampitz, dessen Geschichts-Dissertation über den oppositionellen Pfarrer vor wenigen Wochen als Buch im Berliner Verbrecher-Verlag erschienen ist, herausgefunden haben. Es klingt ein wenig seltsam, so etwas über jemanden zu behaupten, an dessen Beerdigung mehr Menschen teilnahmen als Bürger an seinem Wohnort lebten. Doch Krampitz geht noch weiter. In seiner Arbeit greift er Informationen und Gerüchte auf, die das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) schon in den sechziger Jahren über Brüsewitz sammeln und wohl auch heimlich verbreiten ließ. Brüsewitz würde gerne leicht bekleidet mit Kindern herumtollen und damit den Argwohn seiner Gemeinde erwecken, hieß es sinngemäß in diversen MfS-Dossiers, die sich später auch das Neue Deutschland zu eigen machte. Und einmal habe Brüsewitz, so Krampitz, einen schwer krebskranken Jungen mit den Worten: „So junger Mann, nun stell dich mal darauf ein, dass du bald deinem Schöpfer gegenüber stehst“, brüskiert. Diffamierende Informationen wie diese, wie wahr oder unwahr sie auch immer gewesen sein mögen, halfen der Staatssicherheit, immer neue Informanten zu rekrutieren, die sich berufen fühlten, Brüsewitz in Misskredit zu bringen, obgleich ein operativer Vorgang (OV) gegen ihn nicht belegt ist. „Weil sich die Stasi beim innerkirchlich eh umstrittenen Brüsewitz offenbar keine große Mühe mehr geben musste“, vermutet Krampitz als Grund für deren relative Passivität. Und weil es wegen der „fehlenden Freunde“ schwer gewesen wäre, einen IM bei ihm einzuschleusen, so die kaum nachvollziehbare Schlussfolgerung des Autors. „Wir ahnten, dass wir von Zuträgern umgeben waren“, erinnerte sich dagegen Brüsewitz‘ Witwe Christa in einem Gespräch im Sommer 2006. Ihr Mann habe daraus nie einen Hehl gemacht, habe die Lebensumstände der Familie gelassen, als „Gottes Wille“ hingenommen und seine eigenen Schlüsse daraus gezogen. Nach der Wende lebte Christa Brüsewitz noch immer im Pfarrhaus in Rippicha. Als sie erstmals in den Akten der damaligen Gauck-Behörde blätterte, habe sie an vielen Stellen herzhaft lachen müssen Und bezeichnenderweise hat es Krampitz vermieden, Frau Brüsewitz oder die gemeinsame Tochter Esther, eine Pastorin, als Zeitzeugen für seine Dissertation zu befragen. Denn nach solchen Gesprächen wären vermutlich manche seiner Thesen wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen.

Auch dass Brüsewitz ein leidenschaftlicher Familienmensch war, der Frau und Kinder über alles liebte, wird bei Krampitz, im Nebenberuf politischer Aktionskünstler und freier Mitarbeiter der „Jungen Welt“, mit keinem Wort erwähnt. Dass es Quertreiber in Diktaturen generell schwer haben, Gleichgesinnte und damit Freunde zu finden, war dem Autor, Jahrgang 1969 und seit Jahren bei den Linken aktiv, nur eine Fußnote wert. So führt Krampitz die „schlecht besuchten Gottesdienste“ bei Oskar Brüsewitz vor allem auf dessen Art zu Predigen zurück. Und verkennt, dass DDR-Bürger, die die Nähe zu politisch unbequemen Mitbürgern suchten, schnell selbst in Gefahr gerieten. Viele Gläubige dürften allein aus Angst vor Nachstellungen durch die Staatssicherheit den Gottesdienst in Rippicha gemieden haben. Und nicht etwa, weil sie ein persönliches Problem mit Brüsewitz gehabt hätten, wie Krampitz zu wissen glaubt. Wer sich in der DDR öffentlich zu seinem christlichen Glauben bekannte und gar noch den Gottesdienst eines renitenten Pfarrers besuchte, lebte gefährlich.

Sieg der Stasi

Freuen werden sich indes die Mitarbeiter der früheren Stasi-Hauptabteilung XX/4, die für die Überwachung der Kirchen zuständig war. Denn Teile ihrer operativen Erkenntnisse zu Oskar Brüsewitz haben nun sogar den Weg in eine gesamtdeutsche Doktorarbeit gefunden, zumal noch an einer renommierten Hochschule wie der Berliner Humboldt Universität, die immer wieder von sich behauptete, ihre DDR-Vergangenheit vollständig abgestreift zu haben, was ihr zumindest beim Personal nur teilweise gelungen sein dürfte: Denn Krampitz` Doktorvater Gerd Dietrich war einst linientreuer DDR-Dozent am Ostberliner Institut für Marxismus-Leninismus, wo er – wen wundert`s?! – den Bereich Deutsche Geschichte nach 1945 verantwortete.

In Teilen liest sich Krampitz Dissertation so, als wolle da jemand auf subtile Weise die unvollendete Arbeit der Staatssicherheit vollenden, indem er sich selbst für die Behauptung, Brüsewitz habe einen „Gottesstaat“ gewollt, nicht zu schade ist. Indes können „Zersetzungsmaßnahmen“ gegen Andersdenkende, wie sie gegen Brüsewitz betrieben wurden, auch an Krampitz‘ Humboldt-Universität auf eine gewisse Tradition zurückblicken. Bis 1989 ließ die Staatssicherheit dort sogar einen Teil ihres hauptamtlichen Personals ausbilden, der genau darauf geschult wurde. Erst mit ihrer gleichnamigen „Richtlinie 1/76“ habe das MfS Zersetzungsmaßnahmen überhaupt erst angewandt, argumentiert dagegen Krampitz, wohl wissend, dass die Diskreditierung politischer Gegner durch das Säen von Misstrauen zu allen Zeiten ein probates Mittel war, um Regimegegner auszuschalten; und das lange bevor die Staatssicherheit Brüsewitz auf den Radarschirm bekam.

Krisenjahr 1976

Dessen Tod fiel in eine Zeit, die Historiker heute als das „Krisenjahr“, den Anfang vom Ende der DDR bezeichnen. Wohl auch, weil die Setzungsrisse aus den Anfangsjahren der Diktatur immer größer wurden und der Partei dreizehn Jahre später das Genick brachen. Nach außen hin schien sich die SED-Diktatur im ungewöhnlich heißen Sommer 1976 gefestigt zu haben. Erich Honecker befand sich auf dem Höhepunkt seiner Macht, derweil die DDR bei internationalen Sportwettkämpfen Preise und Medaillen abräumte. Immer mehr DDR-Haushalte verfügten 1976 über Autos, Waschmaschinen und Farbfernseher, ohne dass die umfangreichen Sozialprogramme der Partei im Innern die erhoffte Zustimmung erbracht hätten. Vergeblich buhlten Honecker und Co um die Liebe ihres Volkes, das sich längst an billige, weil subventionierte Mieten und Brotpreise gewöhnt hatte und dennoch die Frechheit besaß, der Obrigkeit den Rücken zu kehren. Das Rezept, politische Unfreiheit mit sozialer Sicherheit zu erkaufen, ging nicht auf.

Die Krise spitzte sich zu, als die DDR den Liedermacher Wolf Biermann, einen ihrer spitzfindigsten Kritiker nach einem Konzert in Köln nicht mehr einreisen ließ. Und in Folge auch andere namhafte Künstler das Land verließen. Brüsewitz‘ Selbstverbrennung muss daher auch auf dem Hintergrund einer sich innenpolitisch zuspitzenden Lage gesehen werden. „Mit der Biermann-Ausbürgerung hatten wir uns selbst demontiert“, räumte nach der Wende SED-Politbüromitglied Günter Schabowski ein. Endgültig war klar geworden, dass die Partei ihren Gegnern nur mehr gewaltsam begegnen wollte, was den Weg in den Revolutionsherbst 1989 weiter ebnete.

Karsten Krampitz
Der Fall Brüsewitz. Staat und Kirche in der DDR
Verbrecher Verlag Berlin 2016
Broschur, 680 Seiten
Preis: 29,00 €
ISBN: 9783957321596

 

Veröffentlicht von on Jan 30th, 2017 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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