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enn Judith Hartmann in Hamburg
zur Klausurbesprechung geht, fällt
sie mit ihrer Begleitung sofort auf: Ganz
vorne sitzen zwei Dolmetscherinnen, die
für sie den Kurs mit Händen und lautlosen
Lippenbewegungen simultan in Gebärden-
sprache übersetzen. Seit ihrer Geburt ist
die 34-Jährige gehörlos als einzige in
ihrer Familie.
Nach dem Abitur an einer speziellen
Gehörlosenschule machte sie eine Ausbil-
dung zur Vermessungstechnikerin. Tech-
nische Berufe sind gut für Gehörlose, da
braucht man nicht so viel zu reden, war
der lapidare Rat, den man ihr gegeben
hatte. Doch Judith fühlte sich herausge-
fordert. Ich wollte schon immer studieren,
und zwar etwas, das mit Sprache zu tun
hat, erzählt sie. Sie entschied sich für Jura
und dürfte heute bundesweit eine der
ersten Gehörlosen sein, die ihr juristisches
Referendariat absolviert.
Stille Welt
Judith
ist
perfekt
zweisprachig:
Sie
beherrscht sowohl die Gebärdensprache als
auch die Sprache der Hörenden. Sie spricht
langsam und mit gedehnten Lauten, aber
flüssig und absolut verständlich das kön-
nen nur ganz wenige Gehörlose. Ein
schwieriger Prozess: Ihre Mutter, die für ihr
Kind die Gebärdensprache erlernt hatte,
zwang sie jeden Tag zu Sprechübungen.
Daneben stand oft ihre Kaffeetasse. Noch
heute hasse ich den Geruch von Kaffee,
weil er mich an diese harten Stunden erin-
nert, schüttelt sich Judith.
Ihre Welt ist fast völlig still. Sie kann
nicht telefonieren und hört kaum Geräu-
sche. Das hat aber auch sein Gutes, sagt
sie und der Schalk blitzt in ihren Augen:
Mich stört es jedenfalls nicht, wenn
jemand neben mir in der Bibliothek seinen
Schönfelder in eine Plastiktüte packt.
Dafür spürt sie die Vibration des Bodens,
wenn jemand mit Büchern beladen durch
den Gang geht.
Wenn Judith mit Hörenden spricht, liest
sie Wort für Wort von den Lippen ab. Ein
Problem, wenn die anderen zu schnell spre-
chen, nuscheln oder sich zu mehreren un-
terhalten. Immer wieder muss sie daher die
goldenen Regeln der Kommunikation er-
klären: Nicht abrupt das Thema wechseln,
deutlich sprechen, Blickkontakt halten.
Übersetzungsschwierigkeiten
Judith verbringt ihr Referendariat wie die
Hörenden auch. Für die Anwaltsstation
war sie in Wien, sie besucht Arbeitsge-
meinschaften und nimmt an den Verhand-
lungen teil allerdings muss sich für alle
Termine vorher die Dolmetscher organisie-
ren. Diese arbeiten meist zu zweit, weil die
simultane Übertragung so anstrengend ist.
Das geht natürlich ins Geld, und Judith
musste lange kämpfen, bis das Integrati-
onsamt die Kosten übernahm.
Juristische Fachausdrücke korrekt in
die Gebärden zu übertragen, ist nicht ein-
fach. Die Gebärdensprache hat eine andere
Grammatik,
juristische
Feinheiten
wie
Eigentum und Besitz werden genau wie
in der Umgangssprache der Hörenden
nicht genau unterschieden, Fachwörter-
bücher für Jura gibt es nicht und abstrakte
Begriffe sind mit den anschaulichen
Gebärden nur schwer zu beschreiben. Sie
musste sich daher mit den Dolmetschern
viele neue Gebärden ausdenken. Über das
Wort Pfändungspfandrecht zum Beispiel
haben wir uns den Kopf zerbrochen,
erzählt sie. Am liebsten würde Judith spä-
ter im Strafrecht arbeiten. Gerade auf die-
sem Rechtsgebiet gilt eine Behinderung
jedoch generell als Problem: Für Gehörlose
liegt das am Mündlichkeitsgrundsatz, der
ein schriftliches Verfahren nicht zulässt.
Blinde Juristen sind in allen
Rechtsbereichen tätig
Und auch blinde Richter haben es im
Strafrecht nicht leicht. Das liegt am
Unmittelbarkeitsgrundsatz:
Nach
der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
darf ein blinder Richter jedenfalls nicht
Vorsitzender einer erstinstanzlichen Straf-
kammer sein, da zum Inbegriff der Ver-
handlung, aus dem der Richter seine
Überzeugung schöpft, auch die visuellen
Eindrücke gehören sollen. Die Rechtspre-
chung ist jedoch umstritten, denn oft kön-
nen Blinde ihre fehlende Sehkraft durch
andere Sinne ausgleichen. So arbeiten
blinde Juristen auf allen anderen Rechts-
gebieten fast uneingeschränkt: Unter den
275 Mitgliedern der Fachgruppe Jura des
Vereins der Blinden und Sehbehinderten
in Studium und Beruf sind immerhin 44
Richter, und auch am BGH hat es schon
einen blinden Richter gegeben.
Uwe Boysen ist Vorsitzender Richter einer
Zivilkammer am LG Bremen und seit seiner
Kindheit blind. Im Studium war er auf die
Hilfe von Vorlesern und Kassettentexten
angewiesen, denn außer den wichtigsten
Gesetzestexten gibt es nur wenig juristi-
sche Literatur in Blindenschrift. Inzwi-
schen hat der 57-Jährigen einen Spe-
zialcomputer,
der
Datenbanktexte
in
Blindenschrift übersetzt und diese Zeile
für Zeile für seine Finger lesbar macht.
Oder
er
benutzt
die
Sprachausgabe.
Wollen Sie mal hören?, fragt Boysen,
und drückt auf den Startknopf. Eine
quäkende Mickeymausstimme liest rasend
schnell einen Aktenauszug vor. Ich stelle
immer
auf
doppelte
Geschwindigkeit,
denn sonst wird man ja nie fertig, sagt er
und lacht.
Probleme mit Beweisaufnahmen hat
der blinde Richter nicht: Bei Verkehrsun-
fällen lässt er sich die Skizze auf Folie so
durchdrücken, dass er sie fühlen kann, und
notfalls stellt er die Situation mit Spiel-
zeugautos nach. Auch Zeugenvernehmun-
gen bereiten ihm keine Schwierigkeiten.
Ich soll die schließlich anhören und nicht
besichtigen, sagt Boysen. Für die Beurtei-
lung der Frage, ob jemand lügt oder die
Wahrheit sagt, sei es manchmal besser, auf
Stimme und Sprechweise zu hören und die
Aussage genau zu analysieren statt auf das
Gesicht zu blicken denn viele lügen ja
bekanntlich, ohne rot zu werden.
Report
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justament august 2005
Ein schwieriger Prozess
Ein Bericht über behinderte Juristen in Ausbildung und Beruf
Julia Schürmann
Judith Hartmann