Sven Regeners sechster Roman „Glitterschnitter“
Thomas Claer
Wie es im Leben so kommt: Manchmal ist jahrelang alles nur Routine, und dann passiert plötzlich ganz viel in kurzer Zeit. Eine solche ereignisreiche Zeitspanne erlebt der junge Frank Lehmann, seit zwei Jahrzehnten die Hauptfigur in den Romanen des Berliner Autors und Musikers Sven Regener, um das Jahr 1980 herum, als er zunächst die elterliche Wohnung in der Bremer Neuen Vahr Süd verlässt, um während seines Bundeswehrdienstes in einer chaotischen WG im Szeneviertel am Steintor unterzukommen. Bald aber kehrt er der Armee und seiner WG den Rücken und flüchtet Hals über Kopf ins Aussteiger-Paradies West-Berlin, wo er eigentlich nur seinen Bruder besuchen will, dort jedoch ganz schnell hängenbleibt. Wie sich innerhalb weniger ereignisreicher Wochen alles ineinanderfügt, bis er auf die eingefahrenen Gleise gesetzt ist, auf denen er sich bis zum Mauerfall 1989 munter fortbewegt, wovon Sven Regeners gefeierter Debütroman „Herr Lehmann“ (2001) erzählt, davon handeln die vier aufeinander folgenden Romane „Neue Vahr Süd“ (2004), „Der kleine Bruder“ (2008), „Wiener Straße“ (2017) – und ganz aktuell: deren vor kurzem erschienene Fortsetzung „Glitterschnitter“. (Einen Ausreißer im Romanzyklus bildet nur der vierte Band „Magic Mysterie oder Die Rückkehr des Karl Schmidt“ (2013), der einen Zeitsprung ins Jahr 1995 wagt). Dass drei dieser vier zeitlich und inhaltlich direkt aneinander anknüpfenden Romane in Berlin spielen, zeigt, wie voraussetzungsreich Frank Lehmanns Achtzigerjahre-Existenz als Bierzapfer in Erwin Kächeles Kreuzberger Kneipe „Einfall“ zumindest in ihren Anfängen gewesen ist. Aber es liegt auch daran, dass hier über eine wirklich wilde Zeit berichtet wird – mit all ihren Ausbrüchen, Aufbrüchen und Experimenten.
Eine bunte Community hat sich da 1980 in Kreuzberg zusammengefunden. Lauter ganz überwiegend junge Leute, die fast alle irgendwelche Kunstprojekte am Laufen haben und nebenher ihren Brotjobs nachgehen: klassischerweise in der Kneipe oder im Taxi. Zwar ist die Szene noch längst nicht so international aufgestellt wie heute, doch immerhin schon aus dem gesamten deutschen Sprachraum zusammengewürfelt. Man hört die verschiedensten Dialekte, die dann mit den einheimischen Urberlinern um sprachliche Dominanz wetteifern. Man kommt mit sehr wenig Geld aus, viele sind schließlich auch Hausbesetzer und leben im ideologischen Biotop der Staatsverachtung und des „Bullen“-Hasses. Während „Der kleine Bruder“ wie seine Vorgänger noch durchgehend die Perspektive des Romanhelden einnahm, probierte Regener in „Wiener Straße“ erstmalig das von ihm so bezeichnete „multiperspektivische Erzählen“. Ohne allwissenden Erzähler wurde der Leser hier durch die jeweiligen Perspektiven und Gedankenströme einer Vielzahl von Romanfiguren geführt. Dieses Konzept setzt sich in „Glitterschnitter“ nun fort – und wird noch weiter radikalisiert. Auch vom Plot her ist der neue Roman deutlich ambitionierter als der vorherige. Es laufen durchweg mehrere Handlungsstränge parallel, die schließlich zu einem grandiosen Finale zusammenfinden. Wie in einem Wimmelbild – so hat es der Verfasser selbst bezeichnet – entfaltet sich so ein überaus lebendiges Panorama des kulturellen Lebens im westlichen Szenebezirk der damals geteilten Stadt. Man könnte sogar von einem alternativen Gesellschaftsroman sprechen, wäre das schöne Wort „alternativ“ nicht inzwischen auf so hässliche Weise vom Rechtspopulismus gekapert worden…
Das einzige, was man dem Roman vorwerfen kann, ist seine Geschwätzigkeit. Sicherlich haben die ausschweifenden Dialoge und nicht minder ausschweifenden inneren Monologe der Romanfiguren in diesem Konzept alle ihre Berechtigung. Aber 470 Seiten sind einfach zu viel des Guten. Hier hätte die Lektorin ihrem Autor vielleicht doch lieber etwas strenger in die Parade fahren sollen, denn ungefähr die Hälfte der endlosen Gesprächskaskaden zwischen den beiden liebenswerten Exil-Österreichern Kacki und P. Immel aus der „Arsch Art Gallery“ hätte es auch getan. Ferner hat das Lektorat auf S. 336 oben links übersehen, dass es richtigerweise: „…ein Heinzelmännchen, das die Arbeit macht…“ heißen muss – und nicht „…ein Heinzelmännchen, dass die Arbeit macht…“.
Ansonsten ist die Romanlektüre ganz überwiegend eine Freude. Im Zentrum der Handlung stehen das avantgardistische Bandprojekt Glitterschnitter mit Lehmann-Kumpel Karl Schmidt an der Bohrmaschine sowie das ausdauernde Ringen des Aktionskünstlers H.R. Ledigt mit seinem Manager Wiemer um den konzeptionell aussichtsreichsten Weg zur Kunstausstellung. Um Freundschaft und Verrat drehen sich die Gespräche nicht nur zwischen Kacki und P. Immel, sondern angesichts kollegialer Unstimmigkeiten hinsichtlich der Interpretation der Öffnungszeiten des Cafe Einfall auch zwischen Frank Lehmann und Karl Schmidt.
Besonders gut gelungen ist diesmal auch die Darstellung sowohl des männlichen als auch weiblichen sexuellen Begehrens, das zumal unter diesen jungen Menschen natürlich zurecht eine so bedeutsame Rolle spielt, und das am Ende des Tages genau dahin führt, wohin so etwas meistens führt, nämlich nirgendwohin. Der 21-jährige Frank Lehmann monologisiert in seinem Inneren ausführlich, wenn auch lustigerweise auf recht verdruckste und verschämte Weise, über seine nächtlichen erotischen Träume, in denen genau drei Frauen eine prominente Rolle spielen: neben der angehenden Glitterschnitter-Saxophonistin Lisa sind dies seine WG-Mitbewohnerin Chrissie (Erwin Kächeles Nichte) sowie deren 37-jährige Mutter Kerstin (Erwin Kächeles Schwester). Besonders schämt sich Frank für einen Traum, in dem er mit Mutter und Tochter gemeinsam zugange ist…
Bleibt noch die Frage, wie es im Romanzyklus weitergehen wird, denn dass Sven Regener von weiteren Fortsetzungen in Zukunft absehen wird, kann man sich zum Glück nicht vorstellen. Da nun aber Frank Lehmann endlich seinen Kneipenjob bekommen hat, könnte nun auch endlich einmal ein Zeitsprung fällig sein: vielleicht ins Jahr 1989 nach dem Mauerfall, hier hatte der Debut-Roman „Herr Lehmann“ geendet. Oder ins Jahr 1995 nach der Rückkehr Karl Schmidts von der Magical-Mystery-Tour. Denkbar wäre aber auch ein noch späterer Zeitpunkt, denn welcher Leser wollte nicht erfahren, wie es mit den Romanhelden auch auf lange Sicht weitergegangen ist. In ein paar Jahren werden wir hoffentlich schlauer sein.
Sven Regener
Glitterschnitter. Roman
Galiani Berlin
480 Seiten; 24,00 Euro
ISBN-10: 3869712341