Runter vom Zauberberg

Vor 100 Jahren musste Hans Castorp sein Lotterleben beenden und in den Krieg ziehen

Thomas Claer

mannAch wie schön wär‘ doch das Leben, gäb es keine Arbeit mehr. Einfach nur dem süßen Nichtstun frönen! Aber sogleich erhebt sich die Stimme der strengen Mahner: Das kann doch kein sinnerfülltes Leben sein, man muss doch etwas tun! Hans Castorp, die Hauptfigur in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ aus dem Jahr 1924, wusste es besser: Man kann sich durchaus daran gewöhnen, nichts zu tun. Nichts zumindest, das sich rein äußerlich betrachten ließe. Was natürlich keineswegs bedeutet, dass sich dann auch im Inneren nichts täte, ganz im Gegenteil! Der große Thomas Bernhard, dessen 25. Todestag wir kürzlich begangen haben, bringt die Dialektik des Nichtstuns in seinem Roman „Auslöschung“ (1986) wie folgt auf den Punkt:

„Meine Eltern hassten das sogenannte Nichtstun… weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass ein Geistesmensch das Nichtstun gar nicht kennt, es sich gar nicht leisten kann… dass ein Geistesmensch gerade dann in der äußersten Anspannung und in dem allergrößten Interesse existiert, wenn er – sozusagen – „dem Nichtstun frönt“. Dem Geistesmenschen ist das sogenannte Nichtstun ja gar nicht möglich. Ihr Nichtstun allerdings war ein tatsächliches Nichtstun, denn es tat sich in ihnen nichts, wenn sie nichts taten. Der Geistesmensch ist aber genau im Gegenteil am allertätigsten, wenn er – sozusagen – nichts tut. Der Nichtstuer als der Geistesmensch ist in den Augen derer, die unter „Nichtstun“ tatsächlich „nichts tun“ verstehen und die als Nichtstuer auch tatsächlich gar nichts tun – weil in ihnen während des Nichtstuns gar nichts vorgeht – die größte Gefahr, und also das Gefährlichste. Sie hassen ihn, weil sie ihn naturgemäß nicht verachten können.“

Allerdings kommt niemand schon als „Geistesmensch“ im Bernhardschen Sinne, der sein äußerliches Nichtstun durch gedankliche Tätigkeit auszufüllen versteht, auf die Welt. Dazu braucht es neben einer gewissen Aufnahmebereitschaft auch den nötigen „Input“, der dann schließlich infolge diverser Rückkopplungsprozesse bewirkt, dass sich im Inneren tatsächlich etwas tut. Man kann diesen Prozess auch „Bildung“ nennen, und in diesem Sinne ist der „Zauberberg“ wohl zuallererst ein Bildungsroman. Doch hat diese Art von Bildung herzlich wenig mit Schulbildung und noch viel weniger mit der gegenwärtigen Schmalspur-Bologna-Bildung zu tun. Denn obgleich der junge Hans Castorp seine kostbare Lebenszeit durch ein völlig unproduktives siebenjähriges Gastspiel in den Schweizer Bergen eigentlich auf skandalöse Weise verschwendet, ist dieser Aufenthalt doch der große Glücksfall seines Lebens. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass dieses, wie zu befürchten ist (was  der Roman aber offen lässt), wohl sehr bald auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs enden wird.

Eigentlich sollte der 23-jährige Hans Castorp im August 1907 nur seinen Vetter Joachim Ziemßen auf dessen Kur im luxuriösen Lungensanatorium in Davos besuchen. Doch er erkältet sich dort, lässt sich ärztlich untersuchen und wird von den Medizinern aufgrund einer „feuchten Stelle“ in seiner Lunge gleich zu einigen Wochen Kur verdonnert. Anfangs wehrt er sich noch gegen den Gedanken, längere Zeit „hier oben“ zu verbringen. Schließlich hat er gerade frisch sein Ingenieurstudium abgeschlossen und soll ins Berufsleben eintreten. (Schon mit 23 – damals absolvierte man ein ähnliches Blitz-Studium, wie es auch heute wieder üblich geworden ist.) Doch bald findet er Gefallen am gediegenen Leben und der anregenden internationalen Atmosphäre im Sanatorium „Berghof“.

Die Türknallerin

Besonders hat es Hans Castorp aber eine exotischen Schönheit angetan, die dem jungen Mann völlig den Kopf verdreht: Clawdia Chauchat, zierlich, schlaffe Körperhaltung, mit graugrünen „Schlitzaugen“ und rotblonden Haaren, ist nur ein paar Jahre älter als Hans, aber im Gegensatz zu ihm durchaus mit allen Wassern gewaschen. Der Roman bezeichnet sie als Russin, genau genommen aber kommt sie aus Dagestan, einer Region im südlichen Kaukasus, die von muslimischen Turkvölkern bewohnt wird. Clawdias Ehemann ist ein Beamter in der dortigen Provinzhauptstadt. Aufgrund ihrer Lungenkrankheit hält sich die junge Madame Chauchat abwechselnd in verschiedenen europäischen Krankenhäusern der Spitzenklasse auf und besucht ihren Mann zu Hause nur gelegentlich. Einen Ehering zu tragen findet sie spießbürgerlich, wie die über alles immer bestens informierten reiferen Damen an Hans Castorps Tisch im Esszimmer des Sanatoriums wissen. Hans Castorps erste Wahrnehmung Madame Chauchats ist eine akustische: Clawdia lässt immer, wenn sie – stets mit einiger Verspätung – den Essenssaal betritt, mit großer Lässigkeit die schwere Glastür geräuschvoll hinter sich zufallen. Anfangs ist Hans erbost über ihr rücksichtsloses schlechtes Benehmen, aber genau das macht sie, wie er sich später eingestehen muss, in seinen Augen besonders anziehend. Es dauert sieben Wochen, bis er auch nur ein Wort mit ihr wechseln kann („Bon jour, Madame.“ – „Bon jour, Monsieur.“) Da haben beide aber schon ausgedehnten Blickkontakt hinter sich. Von Glücksgefühlen geradezu überwältigt ist Hans, als Clawdia ihn einmal – „wahrlich und wahrhaftig“ – anlächelt. Im Vortrag des Dr. Krokowski über „Die Entstehung der Krankheit aus unterdrückter Liebe“ sitzt Hans direkt hinter ihr und genießt den Anblick ihres „nackten Arms“, nur vom durchsichtigen Ärmel ihres Kleids umhüllt. („Mein Gott, ist das Leben schön!“) Überhaupt kennt er nach einiger Zeit alle ihre Kleider im Detail und fragt sich täglich vor ihrem Betreten des Esszimmers erwartungsvoll, welches sie wohl diesmal tragen werde. Nach sieben Monaten ist es dann endlich soweit: Auf der Faschingsfeier am 29. Februar 1908 erscheint Madame Chauchat in einem engen Kostüm mit völlig nackten Armen und Schultern! Hans Castorp ist tief erschüttert von diesem Anblick. Da er schon eine Menge Champagner intus hat, wagt er es, unter dem Vorwand, sich für ein Gesellschaftsspiel von ihr einen Bleistift leihen zu wollen, das Wort an sie zu richten. Und Madame ist einer weitergehenden Unterhaltung keineswegs abgeneigt, äußert aber ihre Verwunderung darüber, dass er sie nicht schon eher angesprochen habe. Heute sei nämlich ihr letzter Abend im „Berghof“, am nächsten Morgen reise sie ab. Nach Hansens umfassenden gestotterten Liebesschwüren in deutsch-französischem Kauderwelsch, währenddessen  Clawdia ihre Hand (eine „nicht sehr aristokratische Hand mit kurzen Fingern“ übrigens) durch seine Haare gleiten lässt, geht sie auf ihr Zimmer und ruft Hans noch zu: „Vergessen Sie nicht, mir meinen Bleistift zurückzugeben!“ Tja, und das muss er wohl noch in selbiger Nacht getan haben, denn am nächsten Morgen hat er nicht mehr ihren Bleistift, dafür aber als Andenken eine Röntgenaufnahme ihres Brustkorbs.

Wie nahe Hans Castorp Madame Chauchat in jener Nacht „tatsächlich“ gekommen ist (sofern dieses Wort angesichts der hier zu verhandelnden literarischen Fiktion überhaupt erlaubt ist), das bleibt letztlich der Phantasie jedes einzelnen Lesers überlassen. Der Roman jedenfalls schweigt darüber. Ein Literaturkritiker vertrat einmal die Ansicht, Hans Castorp habe auf dem Zauberberg doch nur masturbiert. Dieser Auffassung widersprach aber Marcel Reich-Ranicki vehement: Der zurückzugebende Bleistift sei doch ohne jeden Zweifel ein Phallussymbol. Nun, wenn man bedenkt, dass es sich nicht um einen simplen Holzbleistift, sondern um einen Druckbleistift aus Metall mit vorne heraustretender Mine gehandelt hat, dann erscheint diese Deutung als durchaus denkbar. Und außerdem gibt es im weiteren Verlauf des Romans, zumal zum Ende hin, noch zahlreiche Stellen, die die Interpretation unseres verblichenen Literaturpapstes stützen, an dessen Unfehlbarkeit wir ohnehin niemals rütteln würden.

Die Familie zahlt

Clawdia Chauchat reist also ab und meldet sich jahrelang nicht mehr. Doch muss, wie es im Romantext vage heißt, in jener Faschingsnacht etwas vorgefallen sein, das Hans Castorp veranlasst hat, auf eine Rückkehr Madame Chauchats ins Sanatorium „Berghof“ zu warten. Aber wie kann das gehen, dass jemand jahrelang absichtlich krank bleibt oder es zumindest simuliert, nur um länger im Sanatorium auf die eventuelle Rückkehr der Angebeteten warten zu können? Zwei Umstände spielen Hans Castorp hier in die Hände: Zum einen der ausgeprägte Geschäftssinn der Ärzte, den Hans Castorp entweder nicht völlig durchschaut oder absichtlich übersieht. Bald schon herrscht eine Art stilles Einvernehmen zwischen Hans und dem Chefarzt Hofrat Behrens, dass ein längerer Aufenthalt im „Berghof“ in beider Interesse liegt. Zum anderen – die Abrechnung über die Krankenkasse gab es damals noch nicht in der heutigen Form – zahlt Hansens sehr begüterte Hamburger Familie die immensen Rechnungen fast ohne zu murren. Allerdings nur fast, denn nach einem Jahr kommt sein Onkel, James Tienappel, zu Besuch, um nach dem Rechten zu sehen. (Eines der witzigsten Kapitel des ganzen Buches.) Er befindet, dass Hans doch sehr gesund aussehe und er, James, ihn am besten gleich wieder nach Hause mitzunehmen gedenke. Doch das Gespräch von Onkel James mit Hofrat Behrens bringt für Hans die glückliche Wendung. Der Hofrat moniert, noch bevor überhaupt Hansens Gesundheit zur Sprache kommt, die blasse Gesichtsfarbe von Onkel James und rät diesem dringend zu einer eingehenderen Untersuchung. In jedem Falle solle James doch eine ausgedehnte Kur im Sanatorium absolvieren. Völlig überstürzt reist Onkel James, dem all das nicht geheuer ist, über Nacht ab – und Hans hat fortan seine Ruhe. Und doch hätte seine Familie früher oder später vielleicht doch die Geduld mit ihm verloren, wäre nicht sein Vetter Joachim, der es kaum erwarten konnte, gesund zu werden, um seine militärische Laufbahn anzutreten, bald nach seiner vermeintlichen Genesung an seinem Lungenleiden gestorben. So etwas darf natürlich kein zweites Mal in der Familie geschehen – und so kann Hans sich in aller Ruhe weiter auskurieren.

Ob der Aufenthalt im Sanatorium der Gesundheit der Patienten wirklich so zuträglich gewesen ist? Es bleiben Zweifel, denn die wirklich Kranken sterben dort fortwährend wie die Fliegen. Die langen Liegekuren bei eisiger Kälte in der Gebirgsluft sorgen nicht zuletzt für zahlreiche Erkältungen, in den Zimmern sind es im Winter gerade mal sieben Grad (Zentralheizung ist noch nicht erfunden, Öfen gibt es keineswegs überall.) Unter diesen Bedingungen muss man schon eine wirklich gute Konstitution mitbringen, um das sieben Jahre zu überleben… (Ganz zu schweigen davon, dass Hans – als Lungenkranker! – fortwährend Zigarren raucht und sich schon zum Frühstück stets ein starkes Bier genehmigt.)

Aber wie so oft im Leben gibt es, während Zweifelhaftes teuer bezahlt wird, die wirklich wertvollen Dinge manchmal gratis. Hans Castorp findet auf dem Zauberberg zwei Privatlehrer, die ihm mit pädagogischem Geschick nicht nur alle großen Fragen der Zeit nahebringen (und in jener Zeit gab es nicht wenige große Fragen), sondern ihm auch gleich noch die jeweils entgegengesetzten möglichen Haltungen zu diesen in persona vor Augen führen. Eine intensivere geistige Betreuung als die durch den italienischen Humanisten und Freimaurer Lodovico Settembrini sowie durch seinen Antipoden, den Jesuiten und Kommunismus-Bewunderer Prof. Leo Naphta aus Galizien (heute West-Ukraine), wäre ihm wohl in keinem Universitätsstudium der gesamten Geisteswissenschaften zuteil geworden. Und all das ohne irgendwelchen Schein- oder Abgabedruck, sondern nur vom jeweiligen Interesse des Augenblicks vorangetrieben. Und vor allem, wie es ausdrücklich heißt: sine pecunia, also ohne Bezahlung. (Knapp 80 Jahre später gibt es in Thomas Bernhards „Auslöschung“  eine ähnliche Konstellation, die aber für den Privatlehrer Franz-Josef Murnau deutlich günstiger angelegt ist, denn dieser unterrichtet seinen einzigen Schüler Gambetti, Spross einer schwerreichen italienischen Familie, in deutscher Literatur und Philosophie dauerhaft zu einem fürstlichen Honorar.)

Die zwei Lehrmeister

Lodovico Settembrini, mit dem Hans Castorp zuerst Bekanntschaft macht, ist um die vierzig, von Beruf „Literat“ und entstammt einer Mailänder Advokaten- und Literatenfamilie. Eigentlich pausenlos redet er Hans Castorp ins Gewissen und will ihn zur rascheren Gesundung und zur Arbeit anhalten. („Was er nur immer mit der Arbeit hat?“, denkt Hans des Öfteren.) Settembrini selbst schreibt trotz seiner fortgeschrittenen Krankheit sehr eifrig an einem dicken Wälzer im Rahmen eines vielbändigen enzyklopädischen Buchprojekts; natürlich ist das mies bezahlt, der Humanist ist immer denkbar schlecht bei Kasse und wechselt bald aus dem „Berghof“ in eine spartanisch eingerichtete Dachkammer mit Stehpult „unten im Ort“, wo ihn Hans Castorp in der Folge häufig besucht. Mit übergroßer Nüchternheit und Ernsthaftigkeit setzt sich dieser Anwalt des Fortschritts für die Verbesserung der Welt durch Aufklärung und Arbeitsamkeit ein. Alles, was von diesem Ziele ablenken könnte, ist ihm suspekt, vor allem die Musik (etwas „zutiefst Fragwürdiges“) und die erotische Liebe.

Settembrinis inhaltlicher Gegenspieler, der Altphilologie-Professor Leo Naphta, der aus einer jüdischen Familie zum Jesuiten-Orden gekommen ist, wohnt – wie der Zufall so spielt – direkt unter ihm. Naphta hält wenig von Aufklärung und Vernunft. Seiner Meinung nach brauche vor allem die Jugend Zucht und Ordnung, einen festen Glauben und, damit auch niemand übermütig werde, gleich noch den Terror. In der neuen Bewegung des Kommunismus erkennt er eine Art Wiederkehr des totalitären Gottesstaates im atheistischen Gewande – und begrüßt sie. Im Gegensatz zum als gutaussehend beschrieben Settembrini ist Naphta von übergroßer Hässlichkeit. (Thomas Mann soll ihn nach dem Vorbild des Literaturwissenschaftlers Georg Lukacs konzipiert haben.) Auch er versucht Einfluss auf den jungen Hans Castorp zu nehmen – und findet diesen für seine abstrusen Lehren durchaus aufgeschlossen.

Als Thomas Mann später gefragt wurde, mit welcher seiner Figuren er mehr sympathisiere, mit Settembrini oder mit Naphta, antwortete er: „Mit keinem von beiden, sondern mit Hans Castorp.“ Und welchem seiner beiden Lehrmeister ist Hans Castorp mehr zugewandt? Hierzu  nimmt er im Roman in einer seiner ausgedehnten Reflexionen differenziert Stellung: Settembrini sei für ihn der Sympathischere, Naphta hingegen möge er weit weniger, „obwohl er fast immer recht hat“. Man kann in Hans Castorps fataler inhaltlicher Präferenz für Naphta fraglos ein Symptom des damaligen Zeitgeistes sehen. Der fortschrittsoptimistische Liberalismus hatte zu jener Zeit – gerade auch für die jüngere Generation – nur wenig Attraktivität. Schon in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1915-1918) war Thomas Mann, seinerzeit Anfang vierzig, für einen eigenen deutschnationalen Weg zwischen westlicher Demokratie und östlichem Bolschewismus eingetreten und hatte sich ausdrücklich für eine „Konservative Revolution“ ausgesprochen. Während er in den Jahren darauf den „Zauberberg“ verfasste, dürften Wirtschaftskrise, Hyperinflation und schwache demokratischen Regierungen seine antidemokratische Grundhaltung eher noch verfestigt haben. Erst die düsteren Erfahrungen der NS-Zeit und des Exils sorgten schließlich für eine nachhaltige Korrektur seines Weltbildes.

Die Nebenbuhler

Man muss Hans Castorp jedenfalls zugutehalten, dass er in der jahrelangen Wartezeit auf Madame Chauchat nicht das geringste Interesse an anderen jungen Damen zeigt, von denen es doch im Sanatorium auch nicht wenige gibt. Stattdessen liest er eifrig medizinische Fachbücher über alle Einzelheiten des menschlichen Körperbaus und gerät dabei nicht nur ins Philosophieren über das Wunder des Lebens, sondern entwickelt auch sehr konkrete Wunschträume, die natürlich ausschließlich auf Clawdia Chauchat gerichtet sind.
Umgekehrt gibt es aber noch eine Reihe weiterer männlicher Interessenten an Madame Chauchat: zunächst einmal Herrn Wehsal aus Mannheim – für Hans Castorp als Konkurrent im Wettbewerb um Clawdias Gunst aber zum Glück gänzlich ungefährlich – und den Chefarzt Hofrat Behrens, immerhin ein alleinstehender Witwer im fortgeschrittenen Alter. Behrens ist Hobby-Ölmaler und hat noch während Clawdias ersten Aufenthalts im Sanatorium ein Porträt von ihr angefertigt, das der eifersüchtige Hans Castorp, der dem Hofrat unter einem Vorwand einen Besuch abstattet, sehr genau betrachtet. (Übrigens ist das Bildnis ziemlich misslungen, abgesehen von der ganz ausgezeichnet getroffenen Brustpartie…) Auf Hans Castorps Frage, ob Madame dem Hofrat seit ihrer Abwesenheit vielleicht einmal geschrieben habe, antwortet dieser in bodenständigem Realismus: „Ach, das fällt der doch nicht ein!“
Indessen freundet sich Hans Castorp ein wenig mit dem unglücklichen Herrn Wehsal aus Mannheim an, der aus seiner aussichtslosen Liebe zu Clawdia Chauchat kein Geheimnis macht. Irgendwann bittet jener Hans Castorp inständig, ihm nur ja alle Einzelheiten seiner Begegnung mit Madame Chauchat in jener Faschingsnacht zu erzählen. Und Hans Castorp, den so etwas wie Stolz über seine Heldentat ergreift, entspricht diesem Wunsch bis ins kleinste Detail. Nur der Leser ist von diesem Bericht gemeinerweise ausgeschlossen…

Die Rückkehr mit Sugardaddy

Zweifellos gibt es Frauen, die sich von ausdauernden Verehrungsbekundungen eines Mannes beeindrucken lassen, die eine solche jahrelange Treue in der Anbetung tief berührt. Hans Castorps großes Pech ist es aber, dass Clawdia Chauchat ganz und gar nicht zu jenem Kreis gehört. Regelrecht Feuer und Flamme ist er, als Madame ihn nach jahrelanger Funkstille beiläufig aus München grüßen und ihm dabei die Nachricht übermitteln lässt, in einigen Monaten wieder ins Sanatorium „Berghof“ zurückkehren zu wollen. Und sie kommt tatsächlich – doch was dann folgt, ist für den liebeskranken Dauerpatienten eine niederschmetternde Enttäuschung. Gewiss kann es objektiv betrachtet nicht verwundern, dass sich, wenn jemand stur an der Maxime „Die oder keine“ festhält, mit großer Wahrscheinlichkeit die zweite Alternative einstellt. Doch eine solche Demütigung, wie Hans Castorp sie bei Clawdia Chauchats Rückkehr erlebt, ist dann doch beispiellos.

Sie kommt nämlich nicht allein, sondern in Begleitung eines sehr betagten und sehr vermögenden Herrn, heute würde man sagen: mit einem Sugardaddy, wie man ihn gegenwärtig auf Internetseiten wie www.sugardaddy.eu finden kann. Das sind ältere, reiche Männer, die sich jungen, attraktiven Frauen als Mäzen anbieten – im Tausch gegen deren erotische Verfügbarkeit, versteht sich. Internetseiten dieser Art sollen, so heißt es in entsprechenden Berichten, die einzigen Partnerschaftsanbahnungsseiten sein, die weitaus häufiger von Frauen als von Männern besucht werden. Klar, welcher Mann, der noch halbwegs bei Verstand ist, würde sich auf so etwas schon einlassen? Für etwa 25 Prozent aller Frauen hingegen ist laut einschlägigen Umfragen eine solche Konstellation interessant. (Um von womöglich noch höheren Dunkelziffern gar nicht zu reden.) Das sind wohlgemerkt Zahlen aus der Gegenwart (Quelle: Süddeutsche Zeitung) und nicht von 1914.

Als Hans Castorp Clawdia Chauchat wenigstens diskret begrüßen möchte, sieht sie demonstrativ über ihn hinweg. Da gibt es doch, sollte man meinen, nur zwei Möglichkeiten der Reaktion: entweder Konfrontation oder Eskapismus. Doch Hans Castorp wählt eine dritte: Er sucht die Nähe des Sugardaddys und freundet sich mit ihm an. Der greise Mynheer Pepperkorn, mit dem Madame Chauchat „eine gemeinsame Reisekasse hat“, ist schwerkrank und schon ziemlich vertrottelt, aber doch mit einer großen natürlichen Autorität gesegnet. (Für ihn soll Thomas Manns Schriftstellerkollege Gerhard Hauptmann Pate gestanden haben. Hauptmann, der sich vor allem in Pepperkorns Marotte eines stets unzusammenhängenden Satzbaus wiedererkannte, soll darüber außerordentlich verärgert gewesen sein…) Und über den (zunächst) arglosen Pepperkorn kommt Hans dann auch wieder Clawdia Chauchat näher. Doch unglücklicherweise rückt dieses zwar pragmatische, aber wenig würdevolle Vorgehen – jedenfalls in Clawdias Augen – Hans nur in ein noch schlechteres Licht. Unmissverständlich drückt sie ihm in einem Vieraugengespräch, als Hans schon zu erneuten Liebesschwüren ansetzt, ihre Verachtung aus. Sie erklärt ihn, der jahrelang auf ihre Rückkehr gewartet hat, zu einem Taugenichts, womit sie zugegebenermaßen nicht so ganz falsch liegt. Aber in einem überraschenden gedanklichen Salto Mortale schlägt sie kurz darauf vor, sie und Hans Castorp sollten gute Freunde werden, schon weil sie ja die große Wertschätzung für Mynheer Pepperkorn verbinde. Als Hans begeistert einwilligt, besiegeln sie ihren Freundschaftsbund mit einem von Clawdia initiierten Freundschaftskuss, und zwar auf den Mund! Nun denkt (und hofft) man als Leser, dass sich die durchtriebene Madame Chauchat dadurch vielleicht noch ein Hintertürchen zu Hans offenhalten möchte. Wahrscheinlich aber hat sie nur blitzschnell erkannt, dass es die kurzfristig komfortablere Lösung für sie ist, Hans nicht aller Hoffnungen zu berauben statt ihn völlig gegen sich aufzubringen. So macht Hans Castorp weiter die sprichwörtlich gute Miene zum bösen Spiel und begleitet gemeinsam mit anderen – auch der aussichtslose Nebenbuhler Wehsal ist mit von der Partie – Madame und Pepperkorn auf diversen Ausflügen in die Umgebung.

Nach ein paar Monaten geht es dann mit Pepperkorn zu Ende. Hans Castorp nimmt als treuer „Freund“ die angeblich trauernde Clawdia in den Arm und wird von ihr auf die Stirn geküsst. Dann endet das Kapitel. Zu Beginn des nächsten erfahren wir, dass Madame Chauchat nach diesen Ereignissen erneut aus Davos abgereist ist. Diesmal ist aber von einer späteren Rückkehr keine Rede mehr. Das war’s also für Hans.

Biblisches Vorbild

Wie für nahezu alles in der Welt gibt es auch für die traurige Warterei Hans Castorps ein deutlich älteres Vorbild, auf das Thomas Mann, wie auch die in den „Zauberberg“ eingebaute Zahlenmystik beweist, offensichtlich zurückgegriffen hat. In der BIBEL lautet die Geschichte nämlich kurz gesagt so: Sieben Jahre lang hütete Jakob die Schafe Labans, um dessen Tochter Rachel zu gewinnen. Als die Zeit um war, führte man die Braut in sein dunkles Zelt; erst am nächsten Morgen machte er die Entdeckung, dass seine Leidenschaft nicht der lieblichen Rachel, sondern der hässlichen Leah gegolten hatte. Doch um den Preis weiterer sieben Jahre als Schafshüter bei Laban gewann Jakob seine Rachel schließlich doch noch. „Und die sieben Jahre schienen ihm wie ein Tag, angesichts der Liebe, die er für sie empfand.“

Weil Thomas Mann nun aber kein Kitsch-Heini ist, fällt bei Hans Castorp ein solches happy end allerdings aus. Doch bekommt dieser stattdessen etwas anderes, Unerwartetes, das ihn durchaus zu beglücken vermag – nämlich ein Grammophon. Eigentlich wird dieses neumodische Gerät im Kulturzimmer des Sanatoriums für die Allgemeinheit angeschafft. Doch schnell merkt Hans Castorp, dass die anderen Patienten damit entweder nichts anzufangen oder – schlimmer noch – nicht richtig damit umzugehen wissen. Sie sortieren die kostbaren Platten nach dem Hören gar nicht oder falsch wieder ein, sie zerkratzen sie durch unsachgemäßes Abspielen und dergleichen. Hans Castorp schnappt sich den Schlüssel zum Musikzimmer und verwaltet ihn fortan. Wer im Sanatorium künftig Musik hören möchte, muss sich nun bei Hans Castorp, dessen Autorität als einer der langjährigsten Patienten niemand anzutasten wagt, einen Termin holen. Im übrigen genießt Hans selber täglich stundenlang die Musik aus dem Apparat und ist restlos begeistert. So kommt es, dass die Kunst in Verbindung mit der sie ermöglichenden Technik und der ihren Genuss vervollkommnenden Ordnung Hans Castorp schließlich doch noch eine Art von Erfüllung finden lässt.

Doch die währt nicht lange. Im Juli 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Settembrini, der als eifriger Zeitungleser alles längst kommen gesehen hat, ist fassungslos angesichts von Hans Castorps indifferent-lethargischer Haltung. Und in der Tat ist der treudeutsche Hans, der kaum einmal eine Zeitung aufschlägt, ebenso gefährlich unpolitisch wie sein Autor in seinen gleichnamigen Betrachtungen. Das Sanatorium wird mehr oder weniger vollständig geräumt. Alle Männer werden von ihren jeweiligen Herkunftsländern zum Dienst in den Armeen eingezogen. Ob damals wirklich Lungenkranke in den Krieg ziehen mussten? Nun, solche „Kranken“ wie damals in Davos wohl hin und wieder schon, wenn man annimmt, dass den Militärärzten in ihren Musterungen der Geschäftssinn eines Hofrats Behrens so völlig abging. Und so muss ausgerechnet Hans Castorp, dieser Zivilist durch und durch (was damals alles andere als selbstverständlich war), hinein in diese furchtbare Materialschlacht, die zugleich eine neue historische Epoche einläuten sollte.

Doch immerhin eines lässt sich sagen: Er, dem es immer dann am besten ging, wenn er gar nichts tat, hat auf dem Zauberberg trotz allem eine schöne Zeit gehabt.

Veröffentlicht von on Jun 16th, 2014 und gespeichert unter DR. CLAER EMPFIEHLT, DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

1 Antwort for “Runter vom Zauberberg”

  1. Johannes Kraut sagt:

    Der Schriftsteller Uwe Timm in seinem Essay-Buch „Montaignes Turm“: „Madame Chauchat hat mich, das darf ich hier sagen, über die Lektüre hinaus beschäftigt.“

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