Peter Sloterdijks tiefschürfendes anthropologisches Werk „Du musst dein Leben ändern“
Thomas Claer
Man kann sich den Buchautor Peter Sloterdijk, das „bekannteste Gesicht deutscher Gegenwartsphilosophie“ (SZ), gut als Kapitän eines Schiffes vorstellen, mit dem er seine Leser unterhaltsam und sachkundig über die Ozeane des Denkens führt und dabei mal hier, mal dort anlegt, an den Kontinenten der westlichen, aber auch östlichen Philosophie ebenso wie an den vielen verstreuten Inseln der Ideen- und Ereignisgeschichte, um dann schließlich auf dem Eiland seines eigenen philosophischen Denkens vor Anker zu gehen. Jeweils stehen diese „Rundreisen“ unter einem bestimmten Motto: Zynismus, Globalisierung, monotheistische Religionen …
Und diesmal sind das Thema die „Anthropotechniken“, d. h. im sloterdijkschen Sinne die Selbstoptimierungsprozesse durch menschliches Verhalten im Wege gezielter Askesen (griechisch ganz allgemein für Übungen). Was wir als Religionen kennen, das sind für Sloterdijk nur beispielhafte Übungen dieser Art, andere wären etwa sportlicher oder künstlerischer Natur. Der Mensch als Übender also, das ist der zentrale Begriff in Peter Sloterdijks neuer Anthropologie. Als Stichwortgeber fungiert hierbei Friedrich Nietzsche, der in der „Genealogie der Moral“ inmitten seiner Polemik gegen die priesterlichen Asketen, die „das Leben wie einen Irrweg“ behandeln, den Asketismus an sich als eine „der breitesten und längsten Thatsachen, die es gibt“ ausmacht. Explizit Übende sind für Sloterdijk alle Menschen, die dem ursprünglichsten aller ethischen Impulse folgen, dem „absoluten Imperativ“, der da – entsprechend dem Schlusssatz des berühmten Sonetts „Archaischer Torso Apollos“ von Rainer Maria Rilke – lautet: Du musst dein Leben ändern! Entscheidend ist der Ausbruch aus den bloßen Gewohnheiten durch ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu einer „Vertikalen“. Das war der Impuls der ersten Asketen, der antiken Sportler, die ihre körperliche Leistungsfähigkeit perfektionierten. Nach der „Spiritualisierung der Askesen“ in den Klöstern des Mittelalters setzte mit der heraufziehenden Moderne allmählich die Entspiritualisierung der Übungen ein, die letztere in zielgerichtete Naturbeherrschungs- und Erwerbsprozesse trug. Dieser Großzyklus neigt sich nun seinem Ende zu. Und als eine Art wiederholende Renaissance oder gar als „anthropotechnische Wende“ deutet Sloterdijk die geistigen Umwälzungen unserer Tage. Was uns derzeit als Wiederkehr der Religionen erscheint, sei nur ein Symptom für den Hunger der Menschen nach neuen Askesen. Aktueller Absender des Rilkeschen Appells sei die globale Krise, die alle zur Umkehr aufrufe, die Ohren zum Hören hätten.
Das klingt zum Ende hin, zumal in der hier unvermeidlichen komprimierten Form, reichlich esoterisch. Und das ist es letztlich auch: Selbst wer jeden der in gewohnter sprachlicher Meisterschaft präsentierten einzelnen Abschnitte (deren Inhalt hier unmöglich rekapituliert werden kann) für sich genommen als plausibel erachtet, wird mit der conclusio so seine Probleme haben. Erst im vorletzten Kapitel wird ein Einwand aufgenommen, den wohl so mancher Leser über viele hundert Seiten (und damit mehrere Wochen lang) stillschweigend mit sich herumgeschleppt haben mag: Irgendwo ist doch schließlich jeder Mensch ein Übender, „man kann nicht nicht üben“, schreibt Sloterdijk schließlich selbst. Aber wo genau verläuft dann die Grenze zwischen den explizit und den nur gewohnheitsmäßig Übenden? Bei seiner ambitionierten Weltumseglung ist Kapitän Sloterdijk gewissermaßen kurz vor dem Ziel auf einer Sandbank gestrandet, was jedoch keineswegs heißt, dass sich die Reise bis hierhin für die Passagiere nicht gelohnt hätte. Wieder abgeholt werden sie von ihm allemal.
Peter Sloterdijk
Du musst dein Leben ändern. Über Religion, Artistik und Anthropotechnik
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009
712 Seiten, EUR 24,80
ISBN 978-3-518-41995-3