Rechtsanwalt

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

eigentlich wollte ich niemals Rechtsanwalt werden. Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen, wie es so schön heißt. Damals, vor 16 Jahren, hatte mich die pure Verzweiflung dazu getrieben, meine Zulassung als Rechtsanwalt zu beantragen. Endlich angekommen am Sehnsuchtsort Berlin hielt der Arbeitsmarkt für mich als frischgebackenen Volljuristen mit Promotion nur eine Praktikumsstelle in einem Verlag und einen Ergänzungsjob als Nachhilfelehrer bereit. Da kann doch ein weiteres berufliches Standbein nicht schaden, dachte ich mir. Rückblickend kann ich sagen, dass mir meine jahrelange Tätigkeit als prekärer Rechtsanwalt alles in allem zwar kaum erwähnenswerte Einkünfte eingebracht hat, dafür aber einige wertvolle Erfahrungen…

Nach zehn Jahren endet die Aufbewahrungsfrist für Anwaltsakten. Höchste Zeit für mich also, den jahrelang unberührten Stapel im Regal mit meinen Anwaltsakten einmal durchzusehen, was davon vielleicht schon entsorgt werden könnte. Und es zeigt sich: Fast alles kann weg. Seit 2009 habe ich nur noch so wenige Mandate angenommen, dass sie allesamt bequem in einen schmalen Aktenordner passen. Weit mehr als die zehnfache Menge aber wandert nun in die Papiertonne – allerdings nicht ohne mir alles zuvor noch ein letztes Mal anzusehen. Welch eine Zeitreise – zurück in meine wilden, frühen Jahre in Berlin! Ungefähr 50 Fälle habe ich offenbar zu jener Zeit in meiner „Wohnzimmerkanzlei“ bearbeitet. Wirtschaftlich ergiebig waren davon vielleicht vier oder fünf. Der Rest war Kleinkram von Nachbarn, Freunden und Bekannten. Meine Honorare lagen zumeist zwischen 50 und 100 Euro, manchmal auch deutlich darunter. Kaum zu glauben aus heutiger Sicht, was ich mir damit für Arbeit gemacht habe! Am häufigsten waren Auseinandersetzungen mit Telekommunikationsgesellschaften. Gegen die habe ich ausnahmslos gewonnen. In der Regel stellten sie sich stur, aber sobald ihnen ein Anwaltsbrief mit Drohungen ins Haus kam, reagierten sie. Ansonsten beendete ich die jeweiligen Rechtsstreitigkeiten, wo immer es ging, mit einem Vergleich. Mich mit anderen zu streiten war und ist so völlig gegen meine Natur, dass ich als Rechtsanwalt wohl eine komplette Fehlbesetzung gewesen wäre, gäbe es nicht die hohe Kunst der gütlichen Einigung. Darin immerhin war ich, glaube ich, richtig gut. In vielen Fällen gelang es mir, sowohl meine Mandanten als auch die Gegenseite davon zu überzeugen, dass es wirtschaftlich doch völlig unsinnig sei, sich noch weiter gegenseitig zu bekriegen…

Ein weiterer „Tätigkeitsschwerpunkt“ von mir lag in der Zwangsvollstreckung. Ein Bekannter wollte vom strafrechtlich verurteilten Dieb seines Fahrrads dessen Wert erstattet haben. Es ging ihm vor allem ums Prinzip. Also Strafakte angefordert, Mahnbescheid verschickt, diesen rechtskräftig werden lassen und daraus vollstreckt. Natürlich fruchtlos, der Dieb war mittellos. Ein Handwerker aus der Nachbarschaft kam zu mir mit einem rechtskräftigen Gerichtsurteil, wonach ihm jemand tausend Euro als Honorar für seine Tätigkeit schulden würde. Gegen den habe ich dann vollstreckt, das Konto gepfändet, das ganze Programm. Der Schuldner, ein türkischer Bauunternehmer, klingelte dann bei mir und bat flehentlich, damit aufzuhören. Er habe doch kein Geld. Also Ratenzahlungsvereinbarung, jeden Monat 100 Euro abstottern. Mehrmals stand dann am Abend des jeweiligen Stichtags seine Frau im langen Gewand und eingehüllt in ein Kopftuch mit einem zerknitterten 100 Euro-Schein in meiner Tür. Noch einige Male konnte er die monatlichen 100 Euro nicht zahlen. Aber sobald ich wieder sein Konto gepfändet hatte, brachte er mir die Summe dann doch vorbei.

Überhaupt die Baubranche… In Berlin herrschte seinerzeit eine solche Flaute, wie es sich heute niemand mehr vorstellen kann. Handwerker waren gezwungen, die zweifelhaftesten Aufträge anzunehmen. Und nicht selten blieben sie dann auf ihren Kosten sitzen. Der Vater meines türkisch-kurdischen Nachhilfeschülers war Fliesenleger, hatte umfangreiche Leistungen am neuen Berliner Flughafen für ein Subunternehmen einer großen Baufirma erbracht. Den vereinbarten Lohn von mehreren tausend Euro hat er nie gesehen, da das Subunternehmen in die Insolvenz ging. Ich konnte ihm am Ende leider auch nicht mehr helfen, nur indem ich mit meinen Honoraren äußerst zurückhaltend war.

Gleich mehrmals schrieb ich für eine pauschale Bezahlung von 50 Euro böse Anwaltsbriefe im Auftrag der koreanischen Kirchgemeinde, weil sich dort jemand von einem anderen beleidigt gefühlt hatte. Und bei einem Reisebüro handelte ich für die Freundin meiner russischen Sprachschülerin die exorbitanten Stornierungskosten herunter. Gegenüber einem Fitnesscenter drückte ich für einen Bekannten nach dessen Umzug seine laufenden Abo-Kosten. Mit einem Vermieter feilschte ich für die Freundin einer Freundin meiner Frau über die Höhe der einbehaltenen Kaution. Sie sollte eine Vase, die zur Möblierung gehört hatte, kaputt gemacht haben. Der angebliche Schaden: 150 Euro. Ich hielt dagegen, dass sich solche Vasen auch für höchstens 10 Euro auf dem Flohmarkt finden ließen und meine Mandantin gerne eine ähnliche besorgen könne…

Dann war da noch ein Bekannter, der mit seiner Ex einen Kleinkrieg um das Aufenthalts- und Besuchsrecht ihres gemeinsamen kleinen Sohnes führte. Immer wieder schrieb ich auftragsgemäß böse Briefe an die Ex, die genauso störrisch war wie mein Mandant. Schließlich landeten wir vor Gericht. Der Richter erklärte dort den Streitparteien, er könne ihnen auch nicht weiterhelfen, wenn sie sich nicht einigten. Letztlich musste das Gutachten einer vom Gericht bestellten Psychologin entscheiden, das mit fadenscheiniger Begründung der Ex meines Mandaten in fast allen Punkten Recht gab, woraufhin mein Mandant traurig die Segel strich. Ein Bekannter unserer Nachbarin wollte sich von seinem schwulen eingetragenen Lebenspartner scheiden lassen. Es war ein stark vereinfachtes Verfahren, zumal sich die beiden über alle Details bereits einig waren. Ich musste nur vor Gericht dabeisitzen und nicht einmal etwas sagen. Laut Gebührenordnung stand mir dafür ein Honorar von 400 Euro zu. Ich wollte aber nicht unverschämt sein und gab meinem Mandanten 50 Prozent Rabatt.

Ein Nachbar kam zu mir, damit ich gegen seine uneinsichtige Krankenversicherung vorgehen sollte, die ihm hartnäckig eine Ausgleichszahlung verweigerte. Nachdem ich mich mühsam ins Sozialrecht eingearbeitet hatte, schrieb und verschickte ich den begehrten Anwaltsbrief – und die Kasse zahlte prompt. Eine Nachbarin kam zu mir mit einem Inkassobescheid gegen sie. Es stellte sich heraus, dass sie die geforderten 300 Euro tatsächlich bezahlen musste, da sie vor langen Jahren einmal die Rechnung für eine bestellte Ware nicht beglichen hatte. Immerhin konnte ich eine langfristige Ratenzahlung für sie aushandeln, jeden Monat 25 Euro oder so…

Eine andere Nachbarin bat mich um Hilfe, um sich gegen das Sozialamt zu wehren, das sie zum Zwangsumzug in eine billigere Wohnung verpflichtet hatte. Doch die befand sich in einem Plattenbau in Marzahn. Dort hinzuziehen sei aber „menschenunwürdig“, fand meine Mandantin. Sie bezahlte mich mit einem 30 Euro–Gutschein für eine Rechtsberatung, den ich später beim Gericht einlösen konnte. Ich riet ihr, noch einmal persönlich mit der Sachbearbeiterin zu reden. Und tatsächlich blieb meiner Mandantin daraufhin der Umzug nach Marzahn erspart, weil sich dann doch noch eine andere Wohnung für sie im Wedding gefunden hatte…

Mit solchen Mandaten konnte man natürlich längst nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten, aber ich hatte ja noch meine deutlich einträglicheren Nachhilfestunden, und bald schon bot sich mir noch zusätzlich die Möglichkeit, stundenweise wieder im Verlag zu arbeiten. Das war zwar alles nichts zum Reichwerden. Aber da ich sehr sparsam lebte, trotz allem jeden Monat etwas Geld zur Seite legen konnte und es ganz überwiegend in Aktien investierte, stellten sich mit der Zeit, wenn auch von unerwarteter Seite, dann doch noch die wirtschaftlichen Erfolge ein. Und richtig lukrativ wurde es dann seit dem Erwerb der ersten Immobilie… Rechtsanwalts-Mandate nehme ich daher schon lange keine mehr an, außer vielleicht noch aus Gefälligkeit gegenüber ausgewählten Mitmenschen. So ist mein Anwaltsdasein letztlich nur eine vorübergehende Episode geblieben. Es hat ja auch nie wirklich zu mir gepasst. Aber es war ein Versuch, neben mehreren anderen. Und was am Ende klappen wird und was nicht, das lässt sich ja oft nur schwer vorhersagen. Für mich ist es entscheidend gewesen, nicht auf die Ratschläge anderer zu hören, sondern selbst zu probieren, welcher Weg der beste für mich sein könnte. Klar, ich habe auch sehr viel Glück gehabt, aber ganz ohne Glück geht es vermutlich nirgendwo…

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Sep 16th, 2019 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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