Die Argumente der „Putin-Versteher“

Anmerkungen zur Debatte über den Ukraine-Krieg

Thomas Claer

Plakat auf eienr Demonstration in Berlin (Foto: TC)

Es ist immer gut, sich selbst und die eigenen Ansichten kritisch zu hinterfragen, sich auf Gegenargumente zu den eigenen einzulassen, sie zu prüfen und es auch grundsätzlich für möglich zu halten, dass der andere Recht haben könnte. Denn schließlich gehört es ja zu den großen Vorzügen einer pluralistischen Gesellschaft, dass man über beinahe alles unterschiedlicher Meinung sein darf, ohne befürchten zu müssen, dass man dann auf rätselhafte Weise spontan aus dem Fenster stürzt oder plötzlich, wenn auch nicht ganz unerwartet, von tödlichen Magenkrämpfen heimgesucht wird. Oder dass man auch nur wegen unpatriotischer Umtriebe seinen Job verliert.

Aber haben diejenigen, die sich hierzulande seit mehr als drei Jahren vehement für einen Friedensschluss in der Ukraine durch mehr Dialog mit Russland einsetzen, die das Bestehen einer Mitschuld der westlichen Länder am Kriegsausbruch wegen der fortgesetzten NATO-Osterweiterung behaupten und nun eine Ausweitung des Krieges auf das übrigen Europa verhindern wollen, die Trump zumindest in der Ukraine-Frage für einen guten US-Präsidenten und die Kiewer Maidan-Proteste 2013/14 für vom Westen beeinflusst halten, wirklich gute Argumente?

Zieht man die wichtigsten Aussagen der aktuellen Streitschrift „Krieg oder Frieden? Deutschland vor der Entscheidung“ von Klaus von Dohnanyi und Erich Vad, die man beide als intellektuelle Speerspitze des „Putin-Verstehertums“ bezeichnen könnte, heran (siehe nebenstehende Rezension von Matthias Wiemers), dann muss man sogleich zugeben: Sie haben einen Punkt. Vielleicht haben sie sogar mehrere.

Ja, man sollte, wenn man kriegerische Auseinandersetzungen beenden will, immer versuchen, mit der anderen Seite im Gespräch zu bleiben. Natürlich ist es auch immer hilfreich, sich in den Gegner hineinzuversetzen und die Beweggründe für sein Handeln nachzuvollziehen. Und tatsächlich hat es in der internationalen Politik wohl schon immer so etwas wie Einflusssphären von Großmächten gegeben, die man tunlichst respektieren sollte. Aber dass eine auf solche Prämissen gestützte Herangehensweise aktuell – nach allem, was bereits versucht worden ist – ein Ende der Kämpfe im Ukraine-Krieg bewirken könnte, das erscheint dann leider doch fernab der realen Gegebenheiten.

Als direkter Realitätstest für die Thesen der „Putinversteher“ hat sich insbesondere das Gipfeltreffen zwischen dem amerikanischen und dem russischen Präsidenten vor vier Wochen in Alaska erwiesen, bei dem sich vor allem eines gezeigt hat: Putin hat nicht das geringste Interesse an einem Friedensschluss, außer man schenkt ihm noch mehr Land dazu, das er noch gar nicht erobert hat, lässt seine Armee hinter den großen ukrainischen Verteidigungswall im Donbas vorrücken (von wo aus sie dann eine erstklassige Ausgangsposition für künftige weitere Eroberungen hätte) und verzichtet dazu auf Sicherheitsgarantien für die Ukraine durch die Stationierung internationaler Truppen (und auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine natürlich sowieso). Das wäre im Ergebnis so, als würde die Ukraine sogleich kapitulieren und zu einem Vasallenstaat Russlands werden. Die russische Armee kommt derzeit an der Front zwar nur sehr langsam und mit immensen Verlusten, aber dafür kontunuierlich voran. Also macht Putin weiter, denn seine Waffenproduktion läuft dauerhaft auf Hochtouren, und auf die Opferzahlen unter seinen Soldaten braucht er keine Rücksicht zu nehmen, denn sollten ihm irgendwann die Soldaten aus den ländlichen russischen Regionen ausgehen, dann holt er sich halt noch mehr neue aus Nordkorea.

Trump hat hingegen, was ihn in den besagten Kreisen auch hier populär macht, ein großes Interesse an einem Friedensschluss in der Ukraine. Allerdings vor allem deshalb, weil er erstens gerne den Friedensnobelpreis verliehen haben möchte und zweitens mit Russland wirtschaftlich wieder ins Geschäft kommen will. Letzteres wäre zwar auch im Sinne Russlands, ist aber für Putin längst nicht so wichtig wie seine Eroberungen. Das Schicksal der Ukraine dagegen ist Trump anscheinend herzlich egal. Er versucht nur bei dieser Gelegenheit, noch erpresserische Rohstoffdeals mit dem geschundenen Land für die USA herauszuschlagen. An der Verhängung verschärfter US-Sanktionen gegen Russland, die Trump vor kurzem Putin noch angedroht hatte (sogar unter Setzung eines Ultimatums, das Putin ungerührt verstreichen ließ), hat er nun offenbar das Interesse verloren.

Unter dem Strich steht der vom internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesuchte Kriegsverbrecher Putin, der bis dahin seit Kriegsausbruch von allen westlichen Politikern nur als Paria behandelt worden war, nach seinem Treffen mit Trump nun wieder glänzend rehabilitiert da, obwohl er dafür keinerlei Gegenleistung erbringen musste. Und schlimmer noch: Der angebliche „große Dealmaker“ hat offenbar einen so schwachen Eindruck auf Putin gemacht, dass dieser sich seitdem sogar traut, die Ukraine noch stärker als jemals zuvor zu bombardieren, und neuerdings sogar Drohnen in größerer Zahl auf ein NATO-Land abfeuert. Offensichtlich versucht Russland damit auszutesten, inwieweit die USA überhaupt noch zu ihren Bündnisverpflichtungen in der NATO stehen.

Insofern kann man es eigentlich schon als Erfolg werten, dass der Worst Case, eine Übereinkunft zwischen Trump und Putin über die Köpfe der Ukrainer und Europäer hinweg, also eine Art Münchener Abkommen 2.0, durch die intensiven Bemühungen (und Schmeicheleien) der Europäer fürs Erste noch einmal abgewendet werden konnte. Denn würde Putin, wenn man ihm das gibt, was er haben möchte, wirklich aufhören, wie es seine hiesigen Deuter annehmen? Seine kürzlich getätigte Aussage „Wo immer der Fuß eines russischen Soldaten steht, das gehört uns“, lässt eher nicht darauf schließen. Auch die jüngst im russischen Staatsfernsehen im Hintergrund einer Besprechung von Offizieren gezeigte Landkarte, auf der Gebiete bis weit über die Stadt Odessa hinaus bis zur moldawischen Grenze als Teile Russlands eingefärbt waren, trägt nicht gerade zur Beruhigung bei. Es sei ferner daran erinnert, dass Putin in seinem „Ultimatum“ an die westlichern Länder im Herbst 2021 den Rückzug der NATO aus ganz Osteuropa einschließlich Polens gefordert hatte. (Und Klaus von Dohnanyi erklärte dazu ca. im Frühjahr 2022 in einer Talkshow, die westlichen Länder hätten darüber mit Putin verhandeln sollen, um so die bevorstehende russische Vollinvasion in der Ukraine vielleicht noch verhindern zu können.)

Putins historische Bezugspunkte neben Zar Peter dem Großen und Zarin Katharina der Großen, die im 17. und 18. Jahrhundert umfangreiche Territorien für Russland erobert haben, hat er übrigens mal (im Februar 2024) in einem Interview mit dem Fox-News-Moderator Tucker Carlson verraten. Da meinte er, dass die Schuld am Ausbruch des 2. Weltkriegs eigentlich Polen trage, denn das Land hätte ja auf die ihm 1939 von Hitler und Stalin gestellten Forderungen eingehen und so den Krieg vermeiden können. So wie 2022 die Ukraine und Europa. Empfiehlt sich ein solcher Akteur wirklich für aussichtsreiche Friedensverhandlungen?

Aber ist Putin, wie seine Versteher und Deuter meinen, denn nicht eigentlich im Recht, wenn er auf der Respektierung der russischen Einflussspäre besteht? Haben nicht letztlich die westlichen Länder selbst Russlands Einmarsch in die Ukraine provoziert, indem die NATO sich in den Jahrzehnten zuvor immer weiter nach Osten ausgedehnt und schließlich sogar die Ukraine ihren Nato-Beitritt als Staatsziel in ihre Verfassung geschrieben hat? Wenn in Mexiko, so das Beispiel von Dohnanyi und Vad, eine neue Regierung an die Macht käme, die gerne Mitglied der Eurasischen Union Putins werden und russische Militärstützpunkte und Raketenstellungen am Rio Grande errichten möchte, würden dann die USA nicht ihrerseits in Mexiko einmarschieren?

Der Unterschied ist zunächst einmal, dass ein solches Szenario in Mexiko mutmaßlich niemals eintreten würde, weil erstens die Eurasische Union (wie auch das Militärbündnis OVKS) – anders als EU und NATO im Falle Osteuropas und der Ukraine – sich in keinerlei geographischer Nähe zu Mittelamerika befinden; sich in Mexiko zweitens niemand – anders als in Osteuropa und in der Ukraine in Bezug auf Russland – vor territorialen Ansprüchen, geschweige denn Angriffen der USA fürchtet (zumindest bisher noch nicht, müsste man im Hinblick auf den jetzigen US-Präsidenten vielleicht hinzufügen), vor denen die Mitgliedschaft in einem solchen Bündnis Schutz versprechen würde; und drittens Eurasische Union oder OVKS auch nicht als seit 76 jahren erprobtes reines Verteidigungsbündnis wie die NATO bekannt sind, die abgesehen vom völlig anders gelagerten Einsatz im Kosovo-Krieg 1999 noch niemals einen Angriffskrieg auf ein anderes Land und dies schon gar nicht zur Durchsetzung territorialer Ansprüche unternommen hat, sondern im Gegenteil genau dazu dient, andere von solchen Schritten abschrecken.

Noch dazu haben die westlichen Länder, als sich die Länder Osteuropas aus freien Stücken für eine NATO-Mitgliedschaft entschieden haben, Russland damit keineswegs überfahren, sondern in ständigem Dialog mit Russland umfangreiche Bemühungen unternommen, den russischen Bedenken Rechnung zu tragen, weshalb ja auch der von der Ukraine gewünschte NATO-Beitritt (nicht zuletzt auf Drängen Deutschlands) auf unbestimmte Zeit zurückgestellt wurde. Es war Russland, das schon 2014 in der Ukraine mit der gewaltsamen Verschiebung von Grenzen in Europa begonnen hat. Und es waren mit Frankreich und Deutschland zwei westliche Länder, die sich selbst dann noch weiter um einen Ausgleich mit Russland bemüht haben (vgl. Minsker Abkommen).

Hinzu kommt noch, dass die eigentliche (und tatsächlich einzige) Bedrohung Russlands – oder vielmehr die des Russischen Regimes – durch westliche Länder im westlichen Lebensstil liegt, der durch individuelle Freiheiten, wirtschaftliche Prosperität und kollektiven Wohlstand gekennzeichnet ist (insbesondere im Vergleich zu den Zuständen in Russland) und – so die große Befürchtung im Kreml – von Menschen auch in Russland als erstrebenswert angesehen werden könnte, vor allem wenn er sich im Nachbarland ausbreiten würde. Die weltweite mediale Vernetzung war bereits zur Zeit der Kiewer Maidan-Proteste (2013/14) so fortgeschritten, dass eine gezielte Beeinflussung der Menschen in der Ukraine pro Westorientierung durch westliche Geheimdienste mit Sicherheit überflüssig gewesen wäre und wohl vermutlich auch eher eine propagandistische Erfindung des Kreml sein dürfte. So wie bekanntlich die Produktion von lügnerischer Propaganda und Desinformation in staatlichem Auftrag – nach innen wie nach außen gerichtet – in Russland mittlerweile ein Niveau erreicht hat, dass man hier schon beinahe vom drittwichtigsten Wirtschaftszweig  des Landes sprechen kann (nach dem Rohstoffsektor und der Waffenproduktion).

Was folgt nun aus all dem? Der erfolgversprechendste Weg, den Ukraine-Krieg zu beenden und dessen Ausweitung auf das übrige Europa zu verhindern, dürfte es wohl sein, die Ukraine in einem solchen Maße hochzurüsten, dass Russland gegen sie militärisch nicht mehr weiter vorankommt. Erst dann wird Putin zu einem Waffenstillstand bereit sein, weil es erst dann für ihn keinen Sinn mehr hat, noch weiter seine Ressourcen zu verpulvern. Ob Europa es aus eigener Kraft und ohne die Hilfe der USA schaffen kann, wird sich zeigen. Solange es geschlossen und einig agiert, kann es dem Aggressor weiter die Stirn bieten. Und genau das liegt auch im deutschen nationalen Interesse. Wer in Erwägung zieht, die Ukraine stattdessen ihrem Schicksal zu überlassen, möge auch bedenken, welche neuen Flüchtlingsströme in die Europäische Union dies zur Folge hätte. Wie es früher immer hieß: Was gut ist für Europa, ist auch gut für Deutschland.

P.S.: Nachdem ich diesen Text verfasst habe, kommt die Meldung, dass Donald Trump nun doch härtere Sanktionen gegen Russland und insbesondere drakonische Zölle gegen seine Verbündetetn verhängen würde, aber nur unter der Bedingung, dass sich ausnahmslos alle NATO-Länder dazu bereit erklären, kein russisches Öl und Gas mehr (und stattdessen amerikanisches Flüssiggas) zu kaufen. Man darf skeptisch sein… Weiterhin erklärte Trump u.a. noch, dass dieser „lächerliche Krieg“ ja schließlich Bidens und Selenskyis Krieg sei, so wie er auch früher schon geäußert hatte, die Ukraine hätte diesen Krieg nie beginnen dürfen. Man fragt sich, ob er als nächstes sagen wird, der 2. Weltkrieg sei ja Churchills und Roosevelts Krieg gewesen und Polen hätte ihn  nie beginnen dürfen. In Trumps Welt der alternativen Fakten ist alles möglich.

Veröffentlicht von on Sep. 15th, 2025 und gespeichert unter DRUM HERUM, SONSTIGES. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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