Die Pet Shop Boys am Schlachtensee

Scheiben Spezial: Justament-Autor Thomas Claer macht seinen Frieden mit seinen Lieblingen von einst

Als ich Mitte der Achtziger im Osten, im Alter von ca. 14 Jahren, zum ersten Mal die Pet Shop Boys hörte, war ich wie elektrisiert. Unglaublich cool erschien mir dieses Lied, „West End Girls“, das sie in einer Fernsehsendung live zum Besten gaben. Ich glaube sogar, bin mir aber nicht mehr ganz sicher, dass dieses Erlebnis ganz am Anfang meiner Begeisterung für Popmusik stand. Auch die anderen Lieder dieses immer unterkühlt wirkenden Elektro-Duos aus London, die ich im West-Radio gehört und mit dem Kassettenrekorder aufgenommen hatte, gefielen mir sehr.

Weihnachten 1987 – meine Mutter und ich warteten noch auf unsere Ausreise in den Westen, während mein Vater bereits dort war – hatte ich einen Wunsch frei und wünschte mir, was aufgrund einer Lockerung der Zollbestimmungen erst seit kurzem erlaubt war: dass mein Vater mir im Paket eine Popmusik-Schallplatte in den Osten schickte. Es war „Actually“ von den Pet Shop Boys, das so brillante Songs wie “It’s a Sin” und „What Have I Done To Deserve This“ enthielt – und ich liebte diese Platte. Die Musik klang für mich ungefähr so, wie ich mir damals den Westen vorstellte: aufreizend lässig, schön und unnahbar.

Und dann, im Frühling 1989, ließen sie uns endlich raus. Bald darauf fand ich mich wieder auf einem Bremer Gymnasium und sollte im Englisch-Unterricht conversation machen. Und so fragte ich also ganz unbefangen meine neuen Mitschüler: „Which music do you like best?“ Alle nannten sie dann Bands und Musiker, deren Namen ich noch nie gehört hatte, was mich sehr erstaunte, denn schließlich glaubte ich doch, mich mit Popmusik ziemlich gut auszukennen. Und dann sagte ich den verhängnisvollen Satz: „I like the Pet Shop Boys“. Die Reaktion meiner Mitschüler war für mich niederschmetternd. Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen, dann sagte einer: „Oh, das ist aber sehr kommerziell.“ Ein anderer ergänzte verächtlich: „Voll der Mainstream.“ Ich brauchte einige Zeit, bis ich begriff, dass sich in diesen Kreisen – es waren die Kinder des gehobenen Bürgertums – Ansehen und Reputation ganz maßgeblich über den Musikgeschmack definierten. Und hier galt vor allem: je unbekannter und schräger, desto besser. So unterschiedlich die Geschmäcker und Vorlieben hier auch waren, die zumeist auch mit bestimmten Kleidungsstilen und Verhaltensweisen korrespondierten: von Rasterlocken-Reggae-Fans über Schwarzmantel-Grufty-Underground und Müsli-Öko-Diskurs-Indie-Pop bis zu Lederjacken-Punks… Einig waren sich beinahe alle in der Verachtung des Mainstreams. Was in die Hitparaden kam und im Radio lief, das war banale Massenkultur und als solche völlig inakzeptabel. Das war Musik, das lernte ich mit der Zeit, für Haupt- oder Realschüler, nicht aber für Bremer Gymnasiasten…

Natürlich wusste ich nichts von alledem, als ich 17-jährig erstmals damit konfrontiert wurde. Mein Erfahrungshorizont hatte sich ja zwangsläufig zunächst auf das beschränkt, was ich aus West-Radio und West-Fernsehen kannte. Woher sollte ich, als gebürtiger Ossi, auch anderes kennen? Aber obwohl ich die Dünkelhaftigkeit meiner neuen Mitschüler befremdlich fand, weckte sie doch meine Neugier. Was war das für eine Musik, die ihnen ein solches Überlegenheitsgefühl mir gegenüber gab? Wahrscheinlich war es auch mein Drang, dazugehören zu wollen… Ich begann also, mich für abseitigere Musikrichtungen zu interessieren. Und tatsächlich, irgendwann war ich geneigt, meinen Mitschülern recht zu geben. Die radiotaugliche Popmusik empfand ich nun im Vergleich zu dem, was es sonst noch so gab und was ich nun nach und nach für mich entdeckte, als ziemlich banal. Meine Mainstream-Pop-Platten, darunter auch die von den Pet Shop Boys, verkaufte ich eine nach der anderen.

Nur einmal noch hörte ich später wieder etwas von den Pet Shop Boys. Ungefähr 1993, während meines Zivildienstes, saß ich im Warteraum vor dem Blutspenden und hörte dort aus dem Radio die mir wohlbekannten Stimmen: „Go West“ war ihr ganz neuer Hit. Was für eine opulente Hymne auf die Freiheit und die westliche Dekadenz! Ich war wohl ähnlich angetan wie damals, als ich zum ersten Mal „West End Girls“ gehört hatte. Ich bemerkte auch, dass alle Anwesenden, die Patienten wie die Krankenschwestern, ihre Köpfe hoben und sich einen Moment lang diesen überwältigenden Klängen hingaben. Aber meine innere Stimme sagte mir: „Das darfst du jetzt nicht gut finden! Das ist durch und durch kommerzielle, oberflächliche, verlogene Musik für den schlechten, verdorbenen Massengeschmack!“

Und dann erschien 2005 von meiner Lieblingsband Element of Crime die Single „Delmenhorst“. Und sie enthielt mit „You Only Tell Me You Love Me When You’re Drunk“ eine Coverversion eines (späteren) Songs von den Pet Shop Boys. Ein unglaublich schönes, ein wirklich großartiges Lied, das musste ich zugeben. Aber wie konnte das sein? Die Pet Shop Boys hatten doch mittlerweile Zigmillionen und Abermillionen Tonträger verkauft. Das konnte doch nichts taugen. Oder vielleicht doch?

Weitere anderthalb Jahrzehnte vergingen, und noch immer hatte ich mit den Pet Shop Boys, meinen alten Lieblingen aus Teenager-Tagen, gewissermaßen eine Rechnung offen. Und nun las ich im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung einen längeren Artikel über die Pet Shop Boys, inzwischen beide Mitte 60, in ihrer neuen Wahlheimat Berlin. Seit Jahren schon, so erfuhr ich, haben sich die beiden rüstigen Herren am Nollendorfplatz einquartiert. Das passt natürlich, denn die Pet Shop Boys gelten mittlerweile als ausgesprochene Schwulen-Ikonen, hatten ja auch bereits in den Achtzigern, als andere das noch befremdlich fanden, ganz offen schwul gelebt. Und an Berlin, so sagen sie, gefalle ihnen einfach alles, bis auf die vielen Hipster hier. „Sie halten sich allein deshalb für cool, weil sie in Berlin wohnen und einen Vollbart tragen.“ Aber ansonsten sei alles gut in Berlin, auch dass niemand sie in der U-Bahn erkenne, ob sie nun mit der U3 nach Friedrichshain führen oder zum Schlachtensee im Südwesten. Zum Schlachtensee? Ja, dort machten sie regelmäßig ausgedehnte Spaziergänge. Einmal um den See dauert genau eine Stunde – und dann mit der U-Bahn wieder zurück.

Als ich das las, bekam ich große Lust, auch mal wieder einen Ausflug zum wunderschönen Schlachtensee zu unternehmen. Gesagt, getan. Nach einer knappen halben Stunde S-Bahn-Fahrt standen wir am Ufer. „Wir sind noch schneller am Schlachtensee als die Pet Shop Boys“, sagte ich freudig zu meiner Frau. Beim Rundgang um den See beobachtete ich dann die zahlreichen Spaziergänger. Ja, es waren sogar des öfteren zwei ältere Herren gemeinsam unterwegs, aber die Pet Shop Boys waren nicht darunter. Wieder zu Hause stellte ich mir dann mittels YouTube eine CD mit ihren alten Hits aus den Achtzigern zusammen, „aus meiner Zeit“ sozusagen. Und ich bekam beim Anhören am nächsten Morgen während meines Frühsports eine regelrechte Gänsehaut. Nein, das waren keineswegs banale Klänge. Zugegeben, manches davon wirkt aus heutiger Sicht übertrieben bombastisch produziert, etwa das inhaltlich ganz ausgezeichnete „It’s a Sin“. Aber vieles ist so fein arrangiert, von solch unterkühlter hintergründiger Schönheit. Man höre nur das auf den ersten Blick so unscheinbare Lied „Rent“ („I love you, you pay my rent“). Die frühen Pet Shop Boys, so kommt es mir heute vor, verkörpern ungefähr das, was Friedrich Nietzsche als „Oberflächlichkeit aus Tiefe“ beschrieben hat. Oder in den Worten von Rüdiger Safranski: „Das Geheimnis liegt an der Oberfläche. Die Oberfläche des Lebens selbst ist so unendlich tief, dass wir jenseits der Erscheinung keine Tiefe mehr suchen müssen. Der Tanz ist eine Wahrheit in sich. Das Charmieren, die Koketterie ist eine Wahrheit in sich.“ Und ich muss zugeben: Auch kommerzielle, scheinbar oberflächliche Musik kann richtig gut sein. Die Pet Shop Boys sind der Beweis.

Veröffentlicht von on März 2nd, 2020 und gespeichert unter SCHEIBEN VOR GERICHT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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