Freie Autoren waren in der DDR zahlreichen Schikanen ausgesetzt – Schreibmöglichkeiten fanden sie oft unter dem Dach der Kirchen
Benedikt Vallendar
Berlin – „Schreiben ist meine Leidenschaft“, sagt Tabea Majcher. Noch zur DDR-Zeiten hat sie eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Groß geworden ist sie in Oelsnitz, im sächsischen Vogtland. Heute arbeitet Majcher als Disponentin bei einem Entsorgungsunternehmen in Süddeutschland. Und hat von jeher ihre Leidenschaft im Verfassen literarischer Texte gefunden. Nach der Büroarbeit schreibt die heute 48-Jährige Texte für Menschen, denen selbst dazu eine „poetische Ader“ fehle, wie sie sagt. Zu Majchers Repertoire zählen Liebesbriefe, Reimverse, Jubiläumstexte und Gedichte. Zu DDR-Zeiten jedoch hätte sich Majcher mit ihren poetischen Ausflügen leicht auf gefährliches Terrain begeben. Bis 1989 kannten ihre Texte nur enge Bekannte und Familienangehörige. Vieles von vor der Wende hat Majcher aufgehoben; literarische Texte, Liedkompositionen und Wortspiele, die das Innere eines Menschen widerspiegeln, in der Rückschau aber eher das Psychogramm eines Staates bilden, den die in ihm lebenden Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich abgelehnt haben. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin hat viele solcher Texte gesammelt; sie geben beredte Auskunft darüber, was es heißt, in einem Staat zu leben, in dem die Bürger ihre Gedanken unter Verschluss halten müssen.
Gedanken im Visier
Im Überwachungsstaat DDR waren Gedanken, gar geschriebene Gedanken, die nicht auf Parteilinie lagen, von vornherein suspekt, konnten rasch die Staatssicherheit auf den Plan rufen und operative Maßnahmen gegen eigenwillige Schreiberlinge auslösen. „Das Perfide an der Stasi war, dass sie sich für die Gedankenwelt der Menschen, für ihr wahres Ich und ihre Einstellung zum Staat interessiert hat“, sagt der katholische Theologe Matthias Wanitschke aus Erfurt, der 2001 über das „Menschenbild der DDR-Staatssicherheit“ promoviert hat. Viele Autoren fanden in der SED-Diktatur Nischen bei den Kirchen, die sie in kircheneigenen Blättern veröffentlichen ließen oder ihnen Kontakte zu Westverlagen vermittelten. Das Problem: Bei Bürgern, die eigene Gedanken zu Papier brachten und diese unter der Hand kursieren ließen, war rasch der Tatbestand „staatsfeindlicher Handlungen“ erfüllt, mit allen Konsequenzen für die Betroffenen, mehrmonatige Haftaufenthalte eingeschlossen. Heimlich geschriebene Abhandlungen, die bis 1989 in privaten Zirkeln kursierten und heute als „unterdrückte DDR-Literatur“ gelten, waren konterrevolutionäre Beweisstücke, denen Stasi-Mitarbeiter hinterher jagten wie hungrige Löwen einer Gazelle. Ob Tabea Majcher auch eine Stasi-Akte hat, will sie gar nicht wissen, sagt sie. Aber als 1989 die Mauer fiel, sei das auch für sie ganz persönlich ein Befreiungsschlag gewesen, sagt die Autorin rückblickend.
Klaus und Kurt
Offiziell hat es in der DDR nie eine Zensur gegeben; schließlich war im Sozialismus offiziell jeder willkommen, einige jedoch willkommener als andere. Das Veröffentlichen von Texten regelte der Staat über „Druckgenehmigungen“, die Mitarbeiter einer speziellen Abteilung im Zentralkomitee über das Kulturministerium erteilten – oder oft eben auch nicht. Drahtzieher für die Unterdrückung nicht genehmen Schrifttums war bis 1989 Kurt Hager, Politbüro-Mitglied und in der Westpresse gerne als „Chefideologe“ der Partei betituliert. Ausführendes Organ seiner gängigen Unterdrückungspraxis war Klaus Höpcke, stellvertretender DDR-Kulturminister und später Landtagsabgeordneter für die Linken in Thüringen. Der Schriftsteller Erich Loest hat ihn einmal als „Regierungskriminellen“ bezeichnet, der immer gewusst habe, was los war; einer, der es verstanden habe, an der richtigen Stelle Druck abzulassen, damit er den Schlauch andernorts nicht zum Platzen brachte, sagte Loest, der mit seinem 1996 im ZDF verfilmten und in mehrere Sprachen übersetzten Roman „Nikolaikirche“ weltberühmt geworden ist. Er selbst habe sich in seiner Rolle als „DDR-Bücherminister“ nie so recht wohl gefühlt, sagte Höpcke nach der Wende gegenüber Journalisten. Sein neues Betätigungsfeld waren in den 1990er Jahren Asylanten und Flüchtlinge, die er hierzulande „verfolgt und diskriminiert“ sehe.
Wie Katz und Maus
Eine einheitliche Druckgenehmigungspraxis hat es in der DDR bis 1989 nie gegeben. Vieles bewegte sich im Nebulösen, Unkalkulierbaren, was die Situation für freie Schriftsteller nur noch schwieriger gemacht hat. Derweil die Staatssicherheit nach allem fahndete, was sie in oppositionellen Kreisen an konterrevolutionärem Schrifttum vermutete. „Zur Angst vor dem, was greifbar war, gehörte bis 1989 auch die ‚Chronik der Notunterkünfte bedrohter Manuskripte‘, da das Physische der Texte in der DDR durchaus zur Gefahr für die Schreibenden werden konnte“, schreibt die Germanistin Ines Geipel in ihrem gleichnamigen Essay über unterdrückte Literatur in der DDR, das 2015 im Münchner Hanser Verlag erschienen ist. Sie offenbart das Dilemma, das Geschriebene an möglichst unwahrscheinlichen Orten verstecken zu müssen, sagt Geipel. Mussten in den Anfangsjahren des ostdeutschen Staates Autorinnen und Autoren im Zuchthaus fast durchweg ohne Papier auskommen und aus dieser Zwangssituation eigene Formen mündlichen Memorierens begründen, berichten widerständige Autoren der späteren DDR immer wieder von sorgsam bedachten Textaufbewahrungsorten, in Jauchegruben, Kartoffelkellern, zwei Meter tief unter der Birke im Garten, von Verstecken in Schließfächern auf Bahnhöfen, eingenäht in Kissen, in den Spielzeugen ihrer Kinder oder unter Holzdielen. Hatten widerständige Autoren also mit der permanenten Angst zu leben, dass das, was sie dachten und fühlten, als Text greifbar werden könnte, so lebten Apparat und Stasi im Dauerwahn, dass sie dieses ortlos gemachten Textes nicht habhaft werden konnten, was eine ganz eigene Phänomenologie der Textverstecke begründete.
Weckruf des Westens
„Wer in der DDR seine Texte versteckt hat, zeigte von vornherein, nicht zurückstecken zu wollen, sondern – falls erforderlich – in Hamburg einen Verlag um Hilfe zu bitten“, beschreibt der Philosoph Rolf Henrich die groteske Situation. „In der zwanghaften Orientierung an einer Veröffentlichung in der ostdeutschen Verlagslandschaft lag eine besondere Form der Befangenheit, die den Zustand des Gefangenen im Schatten der Mauer spiegelte. Wer sich darauf eingestellt hatte – wenn die mich hierzulande nicht publizieren lassen, dann gebe ich mein Manuskript eben in den Westen –, folgte von vornherein einem freiheitlicheren Lebensentwurf, der die Vormundschaft der parteiamtlichen Aufpasser zurückwies. Freie DDR-Autoren versetzen ihre Leser in denkbare Möglichkeiten, sie aus der Verborgenheit hochzuholen. Und ihr Vermächtnis? Sie machten ihre Leser sehend für das Wirklich-Seiende im selbst ernannten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden.