Energievolle Abrechnung mit der Digitalisierung

Marie-Luise Wolff rechnet mit einer negativen Entwicklung der letzten Jahre ab

Matthias Wiemers

Im vergangenen Jahr sprach der frühere Bundesverfassungsgerichtspräsident „Die Warnung“ aus, indem er insbesondere den Niedergang des Rechtsstaats in Buchform beklagte.

Nunmehr haben wir eine ähnlich deutliche Ansage einer aktiven Vorstandsvorsitzenden eines Energieversorgers und Verbandspräsidentin, deren Tätigkeit gleich mehrfach mit dem Phänomen der „Digitalisierung“ verbunden ist. Die Autorin argumentiert allerdings überwiegend aus persönlicher Betroffenheit als engagierte Bürgerin, aber natürlich auch die beruflichen Erfahrungen aufnehmend. Gleichzeitig erfährt der Leser auch einiges aus der Vita der Autorin, die aus einer Handwerksfamilie stammt und in ihrem Berufsleben einige interessante Stationen absolviert hat, an denen sich jeweils auch die jeweilige technische Entwicklung spiegeln lässt.

Gleich zu Beginn legt Wolff dar, worum es ihr mit dem Buch geht – und spricht sodann ihre Art von Warnung aus, nämlich eine „deutliche Gewinnwarnung für das Digitale“ (S. 10). Der großen Euphorie folge oft die „Traumzerstörung“ und sie gebe den Auftakt hierzu. Deutlich spricht Wolff von einem Staatsversagen. Alle Türen stünden den digitalen Weltmonopolen durch das Versagen des Staats weit offen, und es wird auch sogleich ein rechtspolitischer Vorschlag unterbreitet. Im Zentrum weiterer Regulierungen müsse das Verbot der Speicherung und des Verkaufs persönlicher Daten stehen (S. 11).

Interessant ist auch die Feststellung zu Beginn, digitale Geräte und ihre Dienstleistungen gehörten heute zu den hauptsächlichen Strom- und Ressourcenverbrauchern der Welt (11 f.). Die wichtigsten Sätze stehen am Ende des Vorworts, und man kann sie nur unterstreichen: „Nicht Digitalisierung ist ein Ziel, sondern die Beseitigung großer Herausforderungen, beispielsweise des Klimawandels, unter Zuhilfenahme der Digitalisierung. Meines Erachtens ist es Zeit für die Neuentdeckung der Realwirtschaft.“

Marie Luise Wolff möchte selbstverständlich die Vorzüge des Internets und der Digitalisierung nicht „kleinreden“, betont aber, es tendierten manche Vertreter der Finanzwirtschaft, der Wirtschaft, der Politik und der Medien dazu, die Erfolge zu übertreiben und die Nebenwirkungen kleinzureden (S. 18). Das klingt schonmal nach einer vernünftigen Linie – auch im Hinblick auf die Bemerkung Wolffs, Europa und vor allem Deutschland hätten sich in die Haltung der Anbetung hineinversetzt.

Eine Hauptgefahr wird in der neuen Plattformökonomie gesehen, wobei die Autorin das schöne neue Wort der „Plattformierer“ verwendet, wenn nicht gar prägt.

Die Digitalisierung wird als eine Superideologie bezeichnet, die sich wie ein Schleier über das ganze Denken lege. Zentral sind die Sätze „Die Verantwortung und die Zuständigkeit für den technischen Fortschritt sollte nicht länger einer Handvoll Technologieunternehmen überlassen werden. Die Federführung dafür, wie wir leben und was wir zulassen wollen, haben wir selbst in die Hand zu nehmen.“ (S. 22)

Die dann folgenden Kapitel (2-6) im Inneren des Bandes seien nur kurz anhand ihrer Titel aufgeführt: „Die Erosion der Kommunikation: Wie sie entsteht und was daraus folgt.“ (2), „Hyperreichtum und Digitalisierung: Wie die großen Digitalkonzerne ihr Geld verdienen und welche Risiken daraus entstehen“ (3), Geldverbrennung im Silicon Valley. Warum Start-ups nicht mehr glänzen“ (4), „Die digitale Welt von innen: Über die innere Verfasstheit digitaler Unternehmen im amerikanischen Westen“ (5), „Der digitale Konsument: Wie man zum Instrument von Algorithmen wird“ (6). In Stichworten gibt Wolff darin die Belastungen der psychischen Gesundheit wider, die von der gleichzeitigen Entwicklung von Smartphones und social media ausgehen (S- 29) und von der Ökonomisierung der Zeit von Jugendlichen (S. 32), nimmt aber auch selbstkritisch Veränderungen bei sich selbst wahr (z. B. S. 33). Schön ist die folgende Feststellung des Schriftstellers Jonathan Franzen, die Wolff zitiert: „Wir verbringen unsere Tage damit, auf dem Bildschirm Zeug zu lesen, das wir in einem Buch nie lesen würden, und wir schwadronieren darüber, wie geschäftig wir sind.“ (S. 41)

Für Wolff, die es ausgezeichnet versteht, plastische Begriffe zu benutzen bzw. zu prägen, tut sich ein „digitales Arbeitslager“ für uns Smartphone-Nutzer auf (S. 46). Und sie stellt fest. „Kognitiv nimmt die Faktengläubigkeit durch oberflächlichen Nachrichtenkonsum zu, die Fähigkeit zur Unterscheidungen von Meinungen jedoch ab.“ (S. 47) Hier möchte man hinzufügen, dass das Ganze wohl mit dem Aufkommen eines gewissen Nachrichtenmagazins begonnen hat, wofür der Journalist Jan Ross vor vielen Jahren mal eine schöne Wortpägung fand: Fokus-Republik Deutschland.

Besonders deutlich wird die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Hinblick auf das in letzter Zeit häufiger zu hörende Gerede von einer ökosozialen Marktwirtschaft, wenn man Kapitel 3 liest. Wolff setzt sich hier u. a. mit der Missachtung des Verursacherprinzips beim Online-Handel auseinander, aber auch mit der Art und Weise, wie mit Menschen in dieser neuen digitalen Ökonomie umgegangen wird. So etwa in der folgenden Passage. „Wenn man weiß, welche Logistikschinderei hinter dieser Leistung steckt, wird das Prime-Konto zu einem Angriff auf die Menschenwürde.“ (S. 72) Und weiter: „Auch der Prime-Service wäre dadurch zu begrenzen, dass man dem CO2, das durch die extrem schnellen Lieferzeiten entsteht, weltweit einen Preis gibt.“ (S. 73) Und schließlich: „Im Grunde war es ein Mangel an Fantasie auf Seiten der Regulierer und der Politik, die diesem Prinzip (Es geht um die Umsonst-Strategien, MW) schon früh einen Riegel hätten vorschieben müssen.“ (S. 77)

Oder: „Die Gewöhnung an digitale Convenience macht uns asozial.“ (S. 98) Es erwachse daraus „ein immer unselbständigerer, immer aggressiverer und immer isolierterer Mensch“ (S. 99)

Wichtig erscheint mir auch der Hinweis darauf, dass „neun von zehn startups scheitern“ und dass diejenigen, die sich am Markt durchsetzen könnten, alsbald von etablierten Unternehmen oder Investoren aufgekauft werden (S. 123 ff.)

Gerade in diesem Medium möchte ich noch besonders auf das fünfte Kapitel hinweisen, wo Wolff eine sehr zutreffende Feststellung hinsichtlich der sozialen Mobilität durch Bildung trifft: „Viele Vertreter meiner Generation haben es sich inzwischen angewöhnt, auf die Frage nach ihrem Lebensweg einzuflechten. Ich hatte das Glück, in den sechziger und siebziger Jahren
auf die Schule zu gehen und habe in dieser Zeit von den deutlichen Bemühungen der damaligen Bundesregierungen um soziale und geschlechtliche Chancengleichheit profitiert.“ (S. 180 f. Man möchte ergänzen: ein Jahrzehnt später kann man das auch noch unterschreiben, aber seither wird es schwierig – und über 20.000 akkreditierte Studiengänge sind allenfalls die Illusion einer Aufstiegschance).

Das Handwerk darf sich freuen, weil „alle wesentlichen Handwerke“ nach Wolff „in weiten nicht digitalisierbar“ sind (S. 190). Gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus „Corona“ führt sie aus: „Für die Wirtschaft wird (…) schlagartig deutlich, wie wesentlich die Fähigkeit zur ortsnahen Produktion ohne lange Herstellungs- und Transportketten ist und wie wenig Digitalisierung dabei helfen kann. Es scheint, als habe diese Epidemie schon nach ein paar Wochen den Nachweis dafür erbracht, dass wir uns mit globaler und digital gesteuerter Just-in-time-Produktion, mit angeblich billigeren, aber unendlich langen Produktionsketten, mit Contracting-, Produktions-, Service- oder gar Forschungseinheiten in weit entfernten Ländern etwas vorgemacht haben.“ Und sie hofft, Corona werde dafür sorgen, „dass wir die Realwirtschaft neu schätzen lernen.“ (S. 191)

Im sechsten Kapitel wird vor allem eindrucksvoll belegt, dass die Konzeption eines Datenschutzrechts, das die persönliche Einwilligung des Rechteinhabers impliziert, total verfehlt ist und dass wir Verbote brauchen (S. 232 ff.).

Im Schlusskapitel, das sinnig mit „Wegweiser“ überschrieben ist, gibt uns die Autorin zahlreiche Hinweise, wie wir die Anbetung des Digitalen beenden können. Sie spricht auch eine „Gewinnwarnung für die Digitalisierung“ aus, weil außerhalb der „an einer Hand abzählbaren“ Digitalkonzerne die Digitalisierung für den Rest der Welt weder mit Wachstum noch mit Wohlstand verbunden sein werde (S. 246). Natürlich geht sie in diesem Zusammenhang auch auf die Zukunft der Innenstädte ein, was inzwischen zahlreiche Politiker und Interessenvertreter ebenfalls als Problem erkannt haben. Insgesamt weist Wolff nach, dass „kein einziger Mangelzustand je von einem Digitalkonzern angepackt wurde“ (S. 252), und sie zählt sie auf: Klima- und Artenschutz, Lösung aller Umwelt-, Gesundheits- und Versorgungsfragen, die Organisation eine echten immissionsfreien Mobilität, die Modernisierung, der Umbau und der Erhalt der Infrastrukturen, der Erhalt von Bildung, Kultur und Arbeit, Armutsbewältigung und Migration, die Frage gleicher Start- und Aufstiegschancen, die Bekämpfung schwerer Krankheiten und Epidemien, die Verteidigung von Menschenrechten und Demokratie. Und Wolff weist auch darauf hin, dass mit Blackrock der mächtigste Vermögensverwalter der Welt in einem internen Schreiben auf die Notwendigkeit hingewiesen hat, mehr in den Klimaschutz zu investieren. Inwieweit Blackrock schon Einfluss auf die Politik nimmt, deutet sie nur an (S. 256).

Der abschließende „Wegweiser im persönlichen Umgang mit dem Digitalen“ sollte von jedem von uns gelesen werden, und nicht weniger die Aufzählungen möglicher struktureller „Maßnahmen für die Verbesserung der digitalen Bilanz“ (S. 261 f.).

Hinsichtlich der Rolle, die der elektrische Strom bei der Lösung der Zukunftsprobleme spielen wird, hält sich die Autorin etwas zurück. Dies erhöht die Glaubwürdigkeit – auch wenn ohnehin niemand, der sich auf die Lektüre einlässt, den Eindruck gewinnt, Teil einer lobbyistischen Versuchsanordnung zu sein.

Alles in allem kann man Wolff fast vollständig zustimmen. Wenn das Wort Digitalisierung fällt, setzt wohl bei vielen so genannten Entscheidern in unserem Land das Denken aus. Wir sind als Menschen aber zum eigenständigen Denken geboren. Dieses Buch möge deshalb in diesem Jahr unter möglichst vielen (virtuellen?) Weihnachtsbäumen liegen!

Bravo, Marie-Luise Wolff!

Marie-Luise Wolff, Die Anbetung. Über eine Superideologie namens Digitalisierung, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2020, 271 S., 22 Euro (ISBN978-3-86489-304-9)

Veröffentlicht von on Dez. 7th, 2020 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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