Peter Sloterdijk über „Theopoesie“: „Den Himmel zum Sprechen bringen“
Thomas Claer
Es gibt die berühmte Fabel vom „Wolf auf dem Totenbett“, dem es am Lebensende plötzlich wichtig geworden ist, festzustellen, dass er nicht nur böse Taten, sondern gelegentlich auch gute vollbracht habe. Nun lässt sich zwar nicht gerade behaupten, dass der mittlerweile 73-jährige Peter Sloterdijk, der ewig scharfzüngige Spötter, das Enfant terrible unter Deutschlands Philosophen, auf seine alten Tage fromm geworden wäre. Aber verglichen mit dem nur allzu oft provozierenden Furor früherer Jahre wirkt sein aktuelles Alterswerk dann doch erstaunlich gedämpft, beinahe schon altersmilde. Ein Opus magnum über die Religion also sollte es noch einmal sein. Doch anders als in früheren Veröffentlichungen zu diesem Thema schlägt Sloterdijk in „Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie“ moderate, fast schon versöhnliche Töne an. Ausdrücklich würdigt er die Religionen als kulturell bedeutsame Systeme menschlicher Sinnstiftung, trotz all ihrer „Merkwürdigkeiten“ und Absurditäten, ihrer Dogmatismen und mörderischen Fanatismen. Vor allem aber, und darum geht es in diesem Buch vorrangig, haben sie die Menschen zu dichterischen Glanzleistungen angespornt, denn genau solche verbergen sich – bei Lichte betrachtet – hinter sämtlichen vorgeblich heiligen Texten. Die dichterische menschliche Einbildungskraft ist es, die immer wieder scheinbar den Himmel zum Sprechen gebracht hat.
Nun wäre Sloterdijk aber nicht Sloterdijk, wenn er das unfreiwillig humoristische Potential der religiösen Schriften so einfach ungenutzt liegen ließe. Auch diesmal kann er es sich, zur Freude seiner Leser, selten verkneifen, die heiligen Bücher ein ums andere Mal beim Wort zu nehmen, konsequent weiterzudenken und so immer wieder auf groteske logische Ungereimtheiten zu stoßen. Doch mit nur mildem ironischen Unterton zollt er insbesondere dem Christentum Anerkennung für dessen eindrucksvolle erzählerische Umdeutung eines völligen Desasters – der seltsame Wunderheiler sang- und klanglos von der Obrigkeit hingerichtet, und dann ist auch noch sein Leichnam verschwunden – in eine einzigartige Erfolgsgeschichte von Auferstehung und Erlösung. Noch dazu wird über die Jahrhunderte die ursprüngliche Kernbotschaft in pragmatischer Anpassung an die Verhältnisse weitgehend in ihr Gegenteil verkehrt!
Weniger Freude dürfte einem Großteil seiner Leser aber die diesmal wirklich exzessive Bildungshuberei in Form unzähliger ungeläufiger Fremdwörter bereiten, die den Text wie ein roter Faden durchziehen und den Lesefluss immer wieder erheblich stören. (Man könnte hier fast von einer neuen Form der Lektüre zur linken Hand sprechen, bei der die rechte allerdings nicht in unausgesprochene Körperregionen abgleitet, sondern fortwährend hilfesuchend die Tastatur betätigt, um von Google Aufschluss über nebulöse Begrifflichkeiten zu erlangen.) Zwar waren auch Sloterdijks frühere Werke nicht gerade leichte Lektüren, doch mit zunehmendem Alter droht insbesondere seine Überdosierung an Latinismen zur Marotte zu geraten.
Wer sich jedoch durch die manchmal etwas zähen, dann aber auch wieder erfrischend kurzweiligen 352 Seiten hindurchgearbeitet hat, wird mit einer Fülle von Erkenntnissen belohnt. Wenn einem dann nur nicht die ganzen nachgeschlagenen Fremdwörter schon längst wieder in Vergessenheit geraten wären…
Peter Sloterdijk
Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie
Suhrkamp Verlag 2020
352 Seiten; 26 Euro
ISBN: 3518429337