Deutsche Juristen-Biographien, Teil 44: Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930-2019)
Matthias Wiemers
Jurist, Historiker, Sozialdemokrat und Katholik in einer Person. Kein anderer deutscher Jurist ist so sehr mit einem Zitat verbunden wie der Staatsrechtslehrer Ernst-Wolfgang Böckenförde. Dieses lautet korrekt wie folgt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“ (Von oberflächlichen Zeitgenossen wird es oft verfälscht in die Behauptung, der Staat könne die Voraussetzungen nicht schaffen.)
Dies ist das Böckenförde-Diktum oder auch Böckenförde-Paradoxon, das im Jahre 1964 vorgetragen und 1967 in der Forsthoff-Festgabe („Ebracher Studien“, Stuttgart 1967) erst allmählich populär wurde.
Was ist das für ein Mann, der in relativ jungen Jahren zu so einer vielschichtigen Erkenntnis gelangt?
Vielleicht kann man Böckenförde als westfälischen Preußen in der Diaspora skizzieren, denn er wird am 19. September im damals preußischen Kassel in eine westfälische Forstmeisterfamilie geboren. Der Großvater ist Landgerichtsrat, der von einem landwirtschaftlichen Betrieb in Oelde im Münsterland stammt.
Die Familie hat insgesamt acht Kinder, wobei der älteste Bruder im Zweiten Weltkrieg fällt. Bekannt geworden sind weiterhin der jüngere Bruder Christoph Böckenförde und der zwei Jahre ältere Werner Böckenförde, Jurist und Theologe und Domkapitular des Bistums Limburg (literarisch bekanntgeworden mit Klarnamen in Martin Walsers Roman „Finks Krieg“).
Nach dem Besuch der katholischen Volksschule besucht Ernst-Wolfgang das preußische Wilhelmsgymnasium im heimischen Kassel-Wilhelmshöhe. Im Jahr 1943 verliert er durch einen Unfall ein Bein.
Nach dem Abitur nimmt Böckenförde im Wintersemester 1949/50 das Studium der Rechtswissenschaften in Münster auf und schreibt sich im Sommersemester auch in Geschichte ein. Im Wintersemester 50/51 wechselt er nach München, um vor allem Geschichte bei Franz Schnabel zu studieren, von dessen Werk über die deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert er den ersten Band 1947 zu Weihnachten erhalten hat. Das juristische Studium setzt er daneben fort, bemüht sich aber um Eintritt in das Schnabel´sche Seminar. Schnabel lässt ihn zu, warnt aber sogleich: „Werden Sie bloß kein Historiker, bleiben Sie Jurist. Die Historie ist eine brotlose Kunst.“
Im Seminar referiert Böckenförde über Hobbes. In den Seminaren Schnabels nehmen jeweils etwa 70 Teilnehmer teil, Schnabel hält sieben Stunden Sprechstunde in der Woche, Assistenten hat er keine.
Nach dem gehaltenen Referat im Sommersemester 51 fragt Böckenförde im Winter, ob er bei ihm promovieren dürfe, was Schnabel ihm zusagt. Danach geht es zurück nach Münster, wo Böckenförde am Seminar von Hans Julius Wolff teilnimmt und hier über den Begriff der Gerechtigkeit bei Thomas von Aquin referiert.
Der Anstoß, die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen, kommt 1952 von Wolff – noch vor Examen und Promotion. Im Dezember 1953 folgt das Assessorexamen, und ab dem Frühjahr 1954 ist Böckenförde für gut ein Jahr Assistent bei Wolff in Münster, wo er im wesentlichen den ersten Band des berühmten Verwaltungsrechtslehrbuchs betreut und auch eigene Abschnitte formuliert.
Dann schickt ihn Wolff praktisch weg mit der Bemerkung, er müsse sich um seine Dissertation kümmern. Böckenförde nimmt nun eine Tätigkeit als Tutor im Aasee-Haus-Kolleg, einem Wohnheim des Münsteraner Studentenwerks. Im Dezember 1956 ist das Rigorosum zur juristischen Dissertation zum Thema „Gesetz und gesetzgebende Gewalt“.
Im WS 1956/57 und Sommersemester 1957 ist Böckenförde wieder in München und promoviert 1960 bei Schnabel mit einer Arbeit über die verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. 1961 beginnt er mit der Arbeit an seiner Habilitationsschrift, die 1963 fertig ist – ein Lehrstuhl in Heidelberg wartet – . Alle Schriften, auch „Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung“, wie die Habilitationsschrift lautet, sind nochmals aufgelegt worden, die Dissertationen eröffneten bei Duncker & Humblot je eine Schriftenreihe.
Seit 1953 steht Böckenförde in Kontakt mit Carl Schmitt, den er wohl über das berühmte Münsteraner philosophische Seminar von Joachim Ritter kennenlernt. (Liest man den Briefwechsel zwischen C. S. und seinem promovierten Schüler Ernst Forsthoff, so wird Böckenförde mehrfach erwähnt, weil sich die Herren um einen Lehrstuhl für den Nachwuchswissenschaftler sorgen.) Ernst-Wolfgang und Werner Böckenförde bereiten sich mit Schmitts „Verfassungslehre“ auf ihr Referendarexamen vor und schreiben Schmitt, ob sie ihn einmal in Plettenberg besuchen dürfen.
Für den regelmäßigen Kontakt zu Schmitt spricht auch die Nähe von Arnsberg, wo die elterliche Familie Böckenförde inzwischen lebt, zum Wohnort Schmitts in Plettenberg. Später nehmen Schmitt und vor allem Böckenförde an den Ebracher Ferienseminaren Forsthoffs teil, die von 1957 bis 1971 in Ebrach im Steigerwald (Franken) stattfinden und wo dann 1964 auch das berühmte Diktum entsteht, im Vortrag Böckenfördes zum Thema „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“.
Böckenförde gilt als der bedeutendste Nachkriegs-Schüler Carl Schmitts und hält Schmitts „Der Begriff des Politischen“ für den Schlüssel zu Schmitts Werk.
Referendariat und Assessorexamen hat Böckenförde nie absolviert.
Über seine Parteizugehörigkeit und vor allem die Expertise aus der Habilitation kommt Böckenförde in Kontakt zur Bundesregierung und zu Helmut Schmidt, zunächst in dessen Funktion als Verteidigungsminister und dann als Kanzler.
Als Assistent muss Böckenförde keine eigenen Lehrveranstaltungen übernehmen und kann sich praktisch vollständig auf seine eigene Forschung konzentrieren. Als Professor unterrichtet er das gesamte Staatsrecht und die Allgemeine Staatslehre und Verfassungsgeschichte, aus dem Verwaltungsrecht allerdings nur das Allgemeine Verwaltungsrecht, und zwar von 1964 bis 1969 in Heidelberg, von 1969 bis 1977 in Bielefeld und von 1977 bis 1995 in Freiburg, wo er emeritiert wird. Habilitierte Schüler Böckenfördes sind Adalbert Podlech, Rolf Grawert, Rainer Wahl, Bernhard Schlink, Albert Janssen, Joachim Wieland, Christoph Enders und Johannes Masing.
1961 gründet Böckenförde mit dem ebenfalls als Assistent tätigen Roman Schnur die Zeitschrift „Der Staat“, für die die beiden Hans Julius Wolff und Werner Weber als Herausgeber gewinnen können. Später erscheint die Zeitschrift häufig als Organ der Schmitt-Schule, was Böckenförde aber nicht so sieht.
Als Katholik liest Böckenförde schon als Jugendlicher das „Hochland“ und publiziert hier ab 1957. Hierbei setzt er sich mit dem Verhältnis der Katholischen Kirche zur Demokratie und insbesondere für das Verhalten der Kirche im Jahre 1933 auseinander. Diese Beiträge machen ihn frühzeitig bekannt. Später ist Böckenförde Mitglied im Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, bis er von 1983 bis 1996 Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts wird.
In dieser Tätigkeit bemüht sich Böckenförde um die Sichtweise des Grundgesetzes als Rahmenordnung, ohne konkrete Anweisungen an den Gesetzgeber, die andere gerne aus der Verfassung herauslesen. Berühmt geworden sind einige Sondervoten des Verfassungsrichters Böckenförde, darunter eines zum so genannten Halbteilungsgrundsatz im Steuerrecht, der Jahre später – der Berichterstatter des Ausgangsverfahrens war ausgeschieden – vom Senat wieder korrigiert wurde.
Besonders einflussreich namentlich auf die Rechtsprechung war die Bearbeitung des Demokratieprinzips im Handbuch des Staatsrechts im Jahre 1988. Daneben engagiert sich Böckenförde in zahlreichen Organisationen. In Au bei Freiburg im Breisgau ist er am 24. Februar 2019 gestorben.
Die Fehldeutung seines berühmten „Böckenförde-Diktums“ sah Böckenförde übrigens kritisch. Denn der Staat könne zwar nichts garantieren, könne sich aber – vor allem durch den staatlichen Erziehungsauftrag – durchaus um die Schaffung der Voraussetzungen, von denen der freiheitliche Verfassungsstaat lebt, bemühen. Böckenförde war verheiratet und Vater dreier Kinder.
Quelle: Biographisches Interview mit Dieter Gosewinkel, in. E. W. Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 3. Aufl., Berlin 2019, S. 307 ff.