Die „Suwalki-Lücke“ zwischen Polen und dem Baltikum gilt, militärisch gesehen, als gefährlichster Ort der Welt
Benedikt Vallendar
Ruhe, Natur und weites Land. Wer das Grenzgebiet zwischen Litauen und Polen befährt, ahnt kaum, ausgerechnet am gefährlichsten Ort der Welt zu sein. Kirchtürme, Wohnblocks im skandinavischen Baustil und schmucklose Verwaltungsgebäude aus der Sowjetzeit prägen das Straßenbild in zahlreichen Ortschaften. Um sie herum ein schmaler, 65 Kilometer breiter Landstreifen aus Wäldern, Seen und grünen Hügeln, der die Nato-Staaten Polen und Litauen miteinander verbindet. Im Nordwesten das russische Kaliningrad, weiter südöstlich das diktatorisch regierte Weißrussland. Und mittendrin Suwalki, eine kleine, polnische Stadt, die diesem Korridor ihren Namen gab und seither weltweit für Unruhe sorgt. Denn Militärexperten glauben zu wissen: Kommt es zum gewaltsamen Konflikt mit Russland, dann wird er hier seinen Ausgang finden, an der Landverbindung zwischen Polen und dem Baltikum, das 1991 von der kurz darauf untergegangenen Sowjetunion in die Freiheit entlassen worden war. Oberstes Ziel Putins, so Militärexperten, dürfte die territoriale Abtrennung des Baltikums von seinen Verbündeten und die anschließende Besetzung sein; wie bereits 1940 geschehen, infolge des Hitlers-Stalin-Paktes, als das Baltikum unter die Knute der Sowjetunion geriet.
Butter und Brot
Und apropos Sowjetunion. Sie ist in der Suwalki Lücke weiter allgegenwärtig. In der Stadtarchitektur, in den Augen der Hochbetagten mit ihren gestickten Kopftüchern die Frauen und den gläsernen, manchmal alkoholgeschwängerten Blicken der Männer; und ja, selbst im Sortiment des örtlichen Supermarktes, wo die früher so typischen Einpackbonbons in verschiedenen Geschmacksrichtungen noch immer grammweise verkauft werden, wie in den früheren Kaufhallen des Kommunismus. Allein die Preisschilder verraten, dass die vermeintlich goldenen Zeiten künstlich herunter subventionierter Waren wohl endgültig passé sind und nunmehr die Marktwirtschaft den Ton angibt. Die im Euroraum grassierende Inflation, sie fällt hier in Litauen besonders in Auge; an horrenden Spritpreisen und nicht minder preiswerten Grundnahrungsmitteln, wie Bananen, Butter und Brot, für die man in Litauen deutlich tiefer in die Tasche greifen muss als in Deutschland, was allerdings auch der frappierend dünnen Discounterdichte geschuldet sein dürfte. Ähnlich wie in Polen sind viele Litauer Selbstversorger, bauen Gemüse an und züchten Tomaten in provisorischen Gewächshäusern. Die örtlichen Plastiksammeltonnen sind auffällig leer und sauber, weil sich hier eben nur relativ wenige Menschen von Fertigpizzen und abgepacktem Gouda ernähren können.
Und trotz aller Warnungen. Die Gefahr einer militärischen Eskalation zwischen Putin und dem Westen scheinen hier viele eher gelassen zu nehmen, statt sich ständig wie das Kaninchen vor der Schlange zu wähnen. „Familie, dörfliche Idylle und vor allem der katholische Glaube sind die Grundpfeiler für diese Ruhe hier“, sagt der freundliche Bauleiter, dessen Leute gerade den arg in die Jahre gekommenen Grenzübergang zwischen Polen und Litauen sanieren. Das Gelände ist eine Großbaustelle. Mit schwerem Gerät werden Tonnen an Erde bewegt, neuer Asphalt verlegt und Stahlbeton verbaut.
Sieger der Geschichte
Und der Bauleiter hat nicht übertrieben. Das Bekenntnis zur römisch-katholischen Kirche fällt hier in der Suwalki-Lücke sprichwörtlich ins Auge; zu erkennen an den vielen kleinen und größeren Gotteshäusern, die die Sowjetzeit unbeschadet überstanden haben und heute Anziehungspunkt sind für Familie und Pilger aus Ostdeutschland auf der Suche nach katholischer „Atmosphäre“. Frauen, ob jung oder alt, schmücken sich mit einem kleinen Kreuz um den Hals, und selbst Priesteramtskandidaten laufen in schwarzer Soutane herum. Unvergessen ist in Litauen bis heute der Besuch Papst Johannes Paul II. im Jahre 1993, nach dem Ende der kommunistischen Unterdrückungsjahre. Bis heute gilt der polnische Pontifex in Polen und den anderen baltischen Staaten als Fels in der Brandung, der dem ideologischen Gift des Marxismus-Leninismus unbeirrt widerstanden hat und sich im Nachhinein ein Stückweit als „Sieger der Geschichte“ fühlen konnte.
Und nicht nur er. Im grenznahen Kalvarija, das kurz hinter der litauischen Grenze liegt, wurde 2018 eine Gedenkstele für den litauischen Politiker Petras Klimas errichtet, ehemals Botschafter Litauens in Rom. Klimas war Kommunistengegner und hat bis 1954 in sowjetischer Haft gesessen, an deren Folgen er 1969 starb. „Er steht wie kein anderer für das moderne, von Sowjetrussland unabhängige Lettland“, sagt die polnische Geschäftsfrau Aneta Lach (33), die die mediale Aufregung rund um die Suwalki-Lücke nicht nachvollziehen kann. Lach ist Friseurmeisterin, arbeitet im Bereich Kosmetik und genießt die Sonnenstrahlen, bevor es hier im Herbst noch ruhiger wird als sonst; wenn die eh schon wenigen Touristen wieder verschwunden sind und die Exillitauer allenfalls zum Weihnachtsfest bei ihren Familien verweilen. „Ich glaube, dass um die Suwalki-Lücke mehr Panik als nötig gemacht wird“, sagt Lach und verweist auf die vielen Militärfahrzeuge, die in der Region ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. An einer Raststätte darauf angesprochen, ob sie einen Krieg mit Russland fürchten, winken die Junguniformierten nur lässig ab, beginnen auf Polnisch zu scherzen und treten unweit der Zapfsäulen ihre Zigaretten aus. „Dobzre“, – Nein, alles in Ordnung, rufen sie lachend, klettern in den olivgrünen Transporter und setzen die Fahrt gen Norde fort.
Allmächtiger als Al Quaida
Was in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt ist: Die meisten Nato-Verteidigungslinien befinden sich in der Suwalki-Lücke tief unter der Erde, in Stollen, und unterirdischen Bunkern; von wo aus die weit in den Wäldern verstreut liegenden Abschussrampen für Mittelstreckenraketen befehligt werden. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 entdeckte auch die CIA das weitläufige Gebiet mit den angrenzenden Masuren als Operationsbasis im Kampf gegen Al Quaida, deren Helfershelfer dort mit ausdrücklicher Billigung der polnischen Regierung monatelang verhört wurden; was wesentlich zum Aufspüren von Terrorchef Bin Laden beigetragen hat. „Hoffen wir, dass es ruhig bleibt“, sagt ein Zeitung lesender Mann im örtlichen Discounter von Kalvarija. Trotz starker Militärpräsenz wissen die Menschen, dass sie im Falle einer Eskalation allein auf die hier deutlich zu spürende Nähe Gottes hoffen und vertrauen können.
Fotos: BV