Der Islam braucht eine sexuelle Revolution, findet Seyran Ates
Thomas Claer
Die deutsch-türkisch-kurdische Juristin Seyran Ates, geboren 1963 in Istanbul und als Kind nach Berlin eingewandert, ist eine Frau der Tat, die jahrelang großen Mut bewiesen hat. Als Rechtsanwältin vornehmlich im Berliner Migrantenmilieu (Schwerpunkte: Strafrecht und Familienrecht) unterstützte sie trotz ständiger Bedrohungen bis hin zu offenen Übergriffen seitens aggressiv-traditionalistischer Kreise immer wieder muslimische Frauen dabei, sich aus autoritären, oft auch gewalttätigen Familienstrukturen zu befreien. Daneben tritt sie zunehmend auch als streitbare Sachbuch-Autorin auf. Nach Erscheinen ihres hier zu besprechenden aktuellen Werkes, „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“, im Oktober 2009 zog sie sich angesichts glaubhafter Morddrohungen gegen sie und ihre Familienangehörigen ganz aus der Öffentlichkeit zurück. Schon 2006 hatte sie wegen ähnlicher Vorfälle vorübergehend ihre Anwaltstätigkeit ruhen lassen.
Diesen Hintergrund muss man kennen, um dieser Autorin gerecht zu werden. Denn gegen das Buch lässt sich allerhand einwenden. Schon der reißerische Titel und die sensationsheischende Schlagzeile auf dem Buchrücken, „Ein Tabu wird gebrochen“, haben beim Rezensenten ungläubiges Kopfschütteln ausgelöst. Wie soll denn eine Religion, ein Gedankengebäude aus fernen Jahrhunderten, eine sexuelle Revolution erleben können? Hat denn vielleicht das Christentum Vergleichbares erfahren? Natürlich nicht, es blieb in seinem Kern – man muss nur dem Papst zuhören – so sexualfeindlich wie eh und je, nur wurde sein gesellschaftlicher Einfluss, u.a. infolge der sexuellen Revolution in vielen westlichen Ländern in den Jahren 1968 ff., allmählich zurückgedrängt, und es öffnete sich – eher gezwungenermaßen – der neuen Zeit. Gemeint ist von der Verfasserin wohl eher, dass nicht „der Islam“, sondern, wie sie es einige Male auch selbst ausdrückt, die „muslimische Welt“ eine sexuelle Revolution benötige. Die stark von der islamischen Religion geprägten Länder und die muslimischen Bevölkerungsgruppen in den westlichen Großstädten also sind aufgerufen, sich von innen heraus zu modernisieren, dem nachzueifern, was die Befreiungsbewegungen vornehmlich der westlichen Welt während der vergangenen Jahrzehnte in ihren jeweiligen Regionen schon weitgehend erreicht haben: die sexuelle Selbstbestimmung aller Menschen und die Emanzipation von traditionell-familiärer Bevormundung. So weit, so richtig. Nur vertritt die Autorin, man kennt ihre Positionen bereits aus Fernsehtalkshows, mitunter einen Rigorismus, der ihrem Anliegen wenig dienlich ist. Gleichwohl ist der erschütternde Befund festzuhalten, dass seit einigen Jahren sexuelle Unterdrückung und Ehrenmorde wieder weltweit auf dem Vormarsch sind.
Interessant und informativ ist das Buch vor allem als umfangreiche Stoffsammlung. Die Autorin hat in großer Zahl Frauen mit muslimischem Hintergrund (überwiegend in Deutschland) über ihr Sexualleben befragt und hier, wie die ihr vielfach entgegengebrachte Zurückhaltung und Ablehnung zeigt, tatsächlich an ein Tabu gerührt. Ein weitaus treffenderer Titel für die Publikation wäre „Schwarzbuch Sexualität in islamisch geprägten Milieus“ gewesen. Nicht wenige muslimische Frauen und Mädchen, erfahren wir, sehen sich in ihrem sozialen Umfeld einem Kontrolldruck durch männliche Familienangehörige ausgesetzt, der geradezu totalitäre Ausmaße erreicht. In manchen muslimischen Familien, so berichtet die Autorin, wird sogar kleinen Mädchen das Eislecken auf offener Straße verboten, weil es als unanständig gilt. Also darauf muss man wirklich erst mal kommen, dass das aussehen könnte, wie … Nun muss man aber wissen, dass der Islam – was ihn von fast allen anderen Religionen unterscheidet – eine durchaus sexualfreundliche Religion ist, allerdings nur für die Männer. Man könnte ihn eine Religion der Verherrlichung der männlichen Fruchtbarkeit und der strikten Unterordnung der weiblichen Sexualität unter diese innerhalb der Grenzen des gesellschaftlich Normierten nennen. Das einzige Recht der Frauen, neben dem, von ihrem Mann versorgt zu werden, ist nach traditionell-islamischem Verständnis das Recht auf Scheidung bei Impotenz oder Zeugungsunfähigkeit ihres Mannes. Im übrigen sorgen natürlich, wie Seyran Ates feststellt, gerade die unzähligen Verbote im Alltag für eine tendenziell immer sexuell aufgeladene Atmosphäre zwischen Frauen und Männern in islamisch geprägten Milieus. Der Kontrast zu unserer von sexuellem Überdruss und erotischer Übersättigung bestimmten Mehrheitsgesellschaft könnte nicht stärker sein.
So kann man letztlich beträchtlichen Gewinn aus der Lektüre des Buches ziehen, erfährt viel Erhellendes über die Sorgen unserer muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Einige begriffliche Unschärfen und der inhaltlich abwegige, daher unnötig provozierende Titel wären bei einem umsichtigeren Lektorat sicherlich vermeidbar gewesen. Das gilt auch für den Satz auf S.189, dass es die Türken bewegt habe, „als die Türkei 2008 bei der Fußball-Weltmeisterschaft zum ersten Mal ins Halbfinale kam“. Hier muss entweder die Weltmeisterschaft 2002 oder die Europameisterschaft 2008 gemeint sein. So, wie es dasteht, ist es jedenfalls verkehrt. In der Generation der Verfasserin gehört es für Frauen wohl noch zum guten Ton, nichts vom Fußball zu verstehen …
Seyran Ates
Der Islam braucht eine sexuelle Revolution. Eine Streitschrift
Ullstein Verlag Berlin 2009
219 Seiten, EUR 19,90
ISBN 978-3-550-08758-5
Vielen Dank für den Beitrag.
Seit einigen Jahren gibt es eine Kluft zwischen der muslimischen und der westlichen Welt, die es zu schließen gilt. Aber muss man nicht, um eine Kluft zu schließen, erst die Spannung lösen? Aus meiner Sicht sind hier beide Welten verpflichtet, um Vorurteile und Ignoranz abzubauen. Es reicht nicht, nur eine Welt aufzufodern!
Ich bewundere Frau Ates für ihren Mut. Täglich setzt sie sich Drohungen und Anschlägen aus. Dennoch kämpft sie für ihre Überzeugung. Das muss man einfach anerkennen. Zumal es sicherlich auch gut gemeint ist. Trotzdem glaube ich, dass sie die Lehren des Islams nicht verstanden hat. Der Islam ist hinsichtlich der Sexualität eine sehr zugängliche Religion. Frau Ates schreibt, dass in manchen muslimischen Familien das Eislecken auf offener Straße verboten ist. Wo ist hier der religiöse Bezug? Ich gebe zu- ich habe nie von einer christlichen Familie gehört, die das Eislecken auf offener Straße verboten hat. Aber trotzdem sollte man sich mit dieser Aussage kritisch auseinandersetzen. Mir stellt sich dann automatisch die Frage, ob es ein islamisches „Problem“ ist. Ich bin der Meinung, dass es kulturbedingt ausgelöst wird. Dies lässt sich relativ leicht feststellen, wenn man muslimische Länder miteinander vergleicht. Türkische Muslime verhalten sich völlig anders als arabische oder afrikanische Muslime. In Afrika käme man sicher nicht auf die Idee, eine Tochter ermorden zu lassen, weil sie sich auf einen Holländer eingelassen hat oder ihre Unschuld zu früh verloren hat.
Ich kann mir ebenfalls nicht vorstellen, dass ein muslimisches Mädchen in Indonesien Hausarrest kriegt, weil sie eine Banane auf offener Straße genüsslich verspeist hat.
Wohin soll also eine allgemeine sexuelle Revolution des Islams führen? Grundsätzlich ist die Idee ja ganz nett, aber einer gesamten Religion die sexuelle Aufgeschlossenheit abzuerkennen führt sicher nicht dazu die Kluft zwischen den beiden Welten zu schließen-im Gegenteil.
Daher kann es nicht zweckdienlich sein, den Islam „modernisieren“ oder gar reformieren zu wollen. Im Grunde haben wir doch nur ein Problem mit den muslimischen Machos und den Islamisten. Der IT-Leiter, Reza Ali, interessiert uns doch nicht wirklich. Und auch Fatma Arslan, die das Abitur nachholt, um BWL zu studieren, ist uns ehrlich gesagt egal. Angst machen uns die namenlose Gesichter, die in regelmäßigen Abständen die Presse auf Trab halten und schwachsinnige Sätze, wie „Die Scharia muss in Deutschland eingeführt werden“ von sich geben. Oder junge Männer, die sich von terroristischen Gruppen rekrutieren lassen, um endlich mal irgendwo dazu zu gehören und sich klar positionieren zu können.
Ich halte es für falsch eine Religion verändern zu wollen. Müssen muslimische Frauen wirklich auf das Tragen eines Kopftuches verzichten, um als modern durchzugehen? Ist man zurückgeblieben, wenn eine Frau auf den Richtigen warten will und dabei riskiert, die Katze im Sack zu kaufen? Im ernst jetzt?
Ich sehe im Tragen eines Kopftuches keine Unterdrückung. Wenn man darüber nachdenkt, ist es sogar bewundernswert, dass so viele muslimische Frauen der allgemeinen Meinung trotzig entgegenstellen, dabei noch berufliche Misserfolge riskieren, nur um ihrem Glauben nachzugehen. Meinen Respekt haben diese Frauen definitiv gewonnen. Selbstverständlich lässt sich nicht leugnen, dass es durchaus Frauen gibt, die dazu gezwungen werden. Aber leider werden im Namen Gottes viele Taten erklärt. So auch in anderen Religionen. Der Islam gibt Frauen sehr wohl Rechte. In Ihrem Beitrag schreiben Sie, dass das einzige Recht der Frauen das Versorgungsrecht und das Scheidungsrecht seien. Gleichzeitig schränken Sie das Scheidungsrecht der Frauen ein (bei Krankheit etc.). Eine islamische Scheidung kann sowohl durch den Mann als auch durch die Frau eingeleitet werden. Das Scheidungsverfahren läuft jedoch unterschiedlich ab. Der Mann hat eine unmittelbare Scheidungsgewalt (durch mehrfache Aussprache des Scheidungswunsches). Anschließend muss er drei Monate abwarten um eine Schwangerschaft der Ehefrau auszuschließen (das ist übrigens ein Recht der Frau). Außerdem haben beide dadurch die Möglichkeit sich in den drei Monaten zu vertragen. Und selbstverständlich kann sich auch eine muslimische Frau von ihrem Ehemann trennen. Allerdings nicht unmittelbar. Sie muss sich an ein Gericht wenden und die Scheidung beantragen. Wenn sie einen Ehevertrag abgeschlossen hat (wird so gut wie immer abgeschlossen), kann sie sich ebenfalls unmittelbar trennen. Ich habe die Begründung nie verstanden und daher noch mal recherchiert. Der Islam begründet die unterschiedliche Behandlung damit, dass Frauen emotionaler sind und häufig zu Trennungen neigen, die sie eigentlich gar nicht wollen. Bis es zum Gerichtsverfahren kommt, kann die Frau also ihren Trennungswunsch überdenken. Kommt es zum Gerichtsverfahren, muss ihr Trennungswunsch nicht begründet werden (wie z.B. in Deutschland). Es reicht aus, wenn sie den Trennungswunsch erklärt. Der Ehemann muss hingegen immer einen Trennungsgrund nennen. Für mich klingt das eher nach Männerdiskriminierung ;)
Wo war ich stehen geblieben? Ach ja… Frau Ates.! Ich halte Frau Ates für eine starke und selbstbewusste Frau, doch in dieser Hinsicht scheinen die ihr vermittelten (traditionelle!) Werte klare Spuren hinterlassen zu haben. Und das hat mit Islam nichts zu tun, sondern mit kulturgeprägten Muslimen. Türken leben einen anderen Islam aus als andere islamisch geprägte Länder. Daher sollte man die Kultur verstehen, um das Verhalten zu verstehen. Schließlich geben wir dem Christentum nicht die Schuld, wenn es mal wieder einen Missbrauchsfall in der katholischen Kirche gegeben hat. Wir versuchen zu verstehen, was im Kopf des Täters falsch gelaufen ist.
Ich habe den Eindruck, dass die Islamphobie tendenziell steigt, je häufiger sich so genannte „Islamexperten“ zum Thema äußern. Neulich wurde ein „neues“ Thema eröffnet. Ich war ehrlich verwundert, als die Beschneidung von jüdischen und muslimischen Jungen (die es übrigens nicht seit gestern gibt) plötzlich als Straftat „entdeckt“ wurde und sich alle künstlich aufregten. Die Argumente hatten weniger mit Körperverletzung und mehr mit Intoleranz zu tun. Man konnte sich wieder austoben und zwei Religionen diffamieren. Interessant fand ich auch, dass einige es besser wussten und behaupteten im Islam bestehe keine Beschneidungspflicht. Wann haben denn alle Islamwissenschaften studiert? Hab ich etwas verpasst?