Warum so viele Russland-Versteher im Osten?

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

es ist schon seltsam. Ausgerechnet die Ostdeutschen, die doch angesichts ihrer Geschichte eigentlich diktatursensibel sein sollten, zeigen in Umfragen stets ein besonders großes Verständnis für die Interessen Moskaus. Viel häufiger als die Westdeutschen sind sie gegen Waffenlieferungen in die Ukraine und stattdessen aufgeschlossen für einen Friedensschluss nach den Vorstellungen des Kreml, was aber eine Selbstaufgabe der Ukraine voraussetzen würde. Und sie finden auch nicht selten, dass wir wieder Rohstoffe aus Russland nach Deutschland importieren sollten statt dem Aggressor die Stirn zu bieten. Wie kann das sein?, fragt man sich als gebürtiger Ostdeutscher irritiert. Waren 44 Jahre rote Diktatur (wenn wir die Besatzungszeit vor der Staatsgründung der DDR mitrechnen) plus 12 Jahre braune zuvor, also mithin 56 Jahre unter autoritärer Herrschaft nicht genug?! Aber es glaubt ja laut Umfragen auch ca. ein Drittel der Menschen in Sachsen, gegenwärtig in einer Diktatur zu leben. Sind die denn alle verrückt geworden?!

Woran das liegen könnte, darüber gibt es verschiedenen Theorien. Schon vor einigen Monaten wagte sich die 1989 in Ost-Berlin geborene Politikwissenschaftlerin und Osteuropa-Expertin Sarah Pagung mit der These vor, zur ursprünglichen Unzufriedenheit mit dem eigenen Regime sei im Osten mit der Wiedervereinigung die Abneigung gegenüber dem fremden Westen hinzugekommen und habe sich über die Jahre in Form von Misstrauen in Politik, Institutionen und Medien verhärtet. Das habe Folgen bis heute. Der Ukraine-Krieg werde nun von Ostdeutschen als Konflikt zwischen Ost und West wahrgenommen. Dass man sich heraushalten möchte, hänge mit dem Umstand zusammen, dass die Verbindung und Identifikation mit dem Westen fehle. Die Wissenschaftlerin nennt den Begriff Äquidistanz: Man fühle sich weder zum einen noch zum anderen politischen Akteur hingezogen. Mehr als 40 Jahre in einem sozialistischen Regime nach sowjetischen Vorbild zu leben, habe Menschen selbstverständlich geprägt, auch über die Wiedervereinigung hinaus, sagt Pagung. Wenn die eigene Meinungsbildung mit sehr viel Misstrauen gegenüber allen Seiten zusammenhänge, werde man sich am Ende kaum klar auf eine Seite schlagen. Die ablehnende Haltung im Osten sei also keine Frage von prorussisch oder antiukrainisch, sondern von generellem Vermeiden des Parteiergreifens, sagt Pagung. Man wolle nicht zwischen die Fronten geraten, zwischen Russland und die USA, zwischen Ost und West. Das Problem reiche aber noch tiefer: Während sich der Lebensstandard im Westen für einen Großteil der Menschen ab der Nachkriegszeit stetig verbessert habe, sehe das im Osten anders aus. Die Wiedervereinigung habe sich entgegen der Wohlstandsversprechen eher als das Gegenteil erwiesen: Viele Ostdeutsche hätten die Wende als Zeit der Verluste und Benachteiligung erlebt. Sowohl materiell als auch symbolisch habe es eine Abwertung der im Osten lebenden Menschen gegeben, so Pagung. Bis heute gäbe es eine massive Unterrepräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen. Dadurch würden Ostdeutsche in ihrer Identität herausgefordert und versuchten, dem etwas entgegenzusetzen, sie aufzuwerten – unter anderem mit dem vermeintlichen Wissen über Russland und Osteuropa, erklärt die Wissenschaftlerin. In diesem Fall nähmen Ostdeutsche keine rein außenpolitische Position ein, sondern sähen Russland als Teil ihrer ostdeutschen, von der DDR geprägten Identität. Das Ergebnis sei die Verteidigung Russlands – und damit auch die Verteidigung der eigenen Identität. Russland werde zur Projektionsfläche für die Unzufriedenheit im eigenen Land.

Aber ist das wirklich überzeugend? Laufen hier tatsächlich so komplizierte indirekte Zuschreibungs- und Projektionsmechanismen ab? Oder ist es nicht einfach eine diffuse Bockigkeit von nicht unbeträchtlichen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung, die es den Westdeutschen irgendwie heimzahlen will, sich jahrzehntelang von ihnen degradiert gefühlt zu haben? Materiell geht es wohl ausnahmslos allen Ostdeutschen seit der Wiedervereinigung weitaus besser als zuvor, aber eben oftmals nicht ganz so gut wie den meisten Westdeutschen. Wahrscheinlich ist es ja dieses (bis heute durchaus berechtigte) Empfinden, von den Westdeutschen immer von oben herab betrachtet zu werden…

Vor einigen Tagen hat nun die 1986 in Wismar geborene Publizistin Anne Rabe in der Süddeutschen Zeitung einen weiteren Ansatz präsentiert. Sie sieht, in Anlehnung an den 1967 in Ost-Berlin geborenen Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, den Grund für die ostdeutschen Eigentümlichkeiten auch in einer fehlenden Auseinandersetzung mit den Erfahrungen autoritärer Herrschaft, vor allem in der Wissenschaft. An keiner deutschen Universität gäbe es einen Lehrstuhl für die Geschichte des Kommunismus oder die Geschichte der SED-Diktatur. Die Folge sei, dass angehende Geschichtslehrer darin nicht ausgebildet würden und somit auch kein Wissen an ihre künftigen Schüler vermitteln könnten. Es seien Milliarden in die Aufarbeitung der SED-Diktatur gesteckt worden, jedoch habe der Transfer des erarbeiteten Wissens in  die Gesellschaft kaum stattgefunden. Die Diskurse über Ostdeutschland seien weder im Osten noch im Westen geprägt von einer informierten Debatte, sondern kreisten vor allem um Nostalgie, Wut und anekdotische Evidenzen. Weil das Wissen fehle, könne die Geschichte des Ostens immer wieder von verschiedenen Seiten politisch instrumentalisiert werden. (Rabe nennt als jüngstes Beispiel den in der Tat abscheulichen Vergleich des Bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder von Bundesumweltministerin Steffi Lemke, die einst in der DDR-Opposition aktiv war, mit DDR-Bildungsministerin und First Lady Margot Honecker.) Noch dazu sieht Rabe darin die Folge eines arogantes Desinteresses im Westen. Die Opfer des Stalinismus seien nur so lange interessant gewesen, wie man mit dem Gedenken an sie die DDR habe verhöhnen können.

Auch Anne Rabe und Ilko-Sascha Kowalczuk haben damit natürlich einen Punkt. Aber ist das, was an den Hochschulen nicht explizit genug erforscht wird – und selbst das, was in den Schulen im Geschichtsunterricht nicht hinreichend gelehrt wird – wirklich so entscheidend für die genannten Phänomene? Als 1971 ebenfalls in der DDR Geborener (übrigens genau wie Anne Rabe in Wismar) möchte ich einen dritten Aspekt ins Spiel bringen, der die merkwürdigen politischen Befindlichkeiten in Ostdeutschland vielleicht noch schlüssiger erklären kann: Es ist die jahrzehntelange Abwanderung, die in den Regionen Ostdeutschlands (ähnlich wie in den deindustrialisierten Gegenden Englands, der USA oder Osteuropas) über mehrere Generationen stets die weniger Mutigen, weniger Selbstbewussten, weniger Engagierten und weniger Talentierten zurückgelassen hat. Das hat dort mit der Zeit zu einer trüben Melange aus kollektiver Bitterkeit und angestautem Groll geführt und nicht zuletzt zu einer starken Anfälligkeit für toxische Narrative, wie sie insbesondere von populistischen Parteien und der russischen Staatspropaganda verbreitet werden. Diese Problematik offen anzusprechen ist natürlich heikel, weil sie die dort Ansässigen nur noch stärker vor den Kopf stößt. Aus heutiger Sicht lag das maßgebliche Versäumnis der Politik hinsichtlich Ostdeutschlands in den vergangenen drei Jahrzehnten darin, nicht schon viel früher und entschlossener für die Ansiedlung noch mehr bedeutsamer Institutionen und wirtschaftlicher Standorte in Ostdeutschland gesorgt zu haben. Doch ist genau dies gegenwärtig auf einem ziemlich guten Weg, was sich auch daran zeigt, dass es mittlerweile in vielen ostdeutschen Städten längst wieder einen signifikanten Zuzug gibt. Nur wirken solche Entwicklungen leider nur erheblich zeitversetzt, weshalb uns die alarmierende Häufung gefährlicher politischer Verirrungen in nicht unbeträchtlichen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung wohl noch eine Weile beschäftigen wird.

Dein Johannes

P.S.: Der Historiker Heinrich-August Winkler (geb. 1938) – Autor von „Der lange Weg nach Westen“ – äußerte sich im Interview mit der Süddeutschen Zeitung zu dieser Thematik wie folgt (SZ vom 7.6.2024, S.11): „Es gibt hier neben sentimentalen Erinnerungen an „freundliche Russen“ auch eine verbreitete Angst vor dem mächtigen Russland. In der DDR konnten unter dem Deckmantel des offiziellen Antifaschismus als Partei- und Staatsdoktrin aber auch manche „altdeutschen“ Denkweisen fortleben, die in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft bis heute nachwirken. Der Rückhalt ist hier groß für nationalistische, illiberale und antiwestliche Denkmuster. Ein gewisses Reservoir für entsprechende Vorurteile existiert auch im Westen. Das macht die gesamtdeutsche Gefährlichkeit der AfD aus. Die grundsätzliche Auseinandersetzung muss von den demokratischen Parteien offensiv geführt werden. … Es muss klar werden, welche fatalen Konsequenzen es hätte, wenn die AfD irgendwo mitregieren würde.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

P.P.S.: Der Soziologe Steffen Mau hierzu im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau: „Das ist eigentlich eine Verklärung einer Vergangenheit, die so nie existierte. Es gab eine große Distanz zur Sowjetunion, wenig Kontakt zur sowjetischen Armee und Widerwillen, Russisch zu lernen. Dennoch führten Gorbatschow und der friedliche Abzug der sowjetischen Soldaten zu Dankbarkeitsgefühlen und einer Idealisierung der Sowjetunion als Vielvölkerstaat. Dies hat in Ostdeutschland zu einem verzerrten Russlandbild und naiven Vorstellungen über ein mögliches Kriegsende geführt.“

Veröffentlicht von on Mai 13th, 2024 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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