Bilanz einer Kanzlerin
Anmerkungen zur Merkel-ist-schuld-Debatte
Thomas Claer
Merkel ist an allem schuld, was hierzulande nicht gut läuft, und das ist eine Menge. So liest und hört man es vielfach, seit unsere Ex-Kanzlerin mit viel Tamtam ihre Autobiographie vorgelegt und unser Land damit mal wieder in eine hitzige Debatte gestürzt hat. Denn hätte man in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft (2005-2021) nicht vieles besser machen können? Doch, ganz bestimmt sogar. Und erst recht mit dem Wissen von heute darüber, wie sich die Dinge seit ihrem Abgang dann weiter entwickelt haben.
Es sei doch sonnenklar gewesen, dass wir uns nie in eine solche energiepolitische Abhängigkeit von Putin-Russland hätten begeben dürfen, heißt es. Dem Kreml-Despoten sei doch auch schon damals nicht zu trauen gewesen. Wie habe man denn das nicht wissen können?! Immerhin die Grünen wussten es und haben es immer gesagt. Unsere Nachbarländer und die USA haben es ebenfalls gewusst und es uns immer wieder unter die Nase gerieben. Allein, die vier Merkel-Kabinette wollten davon nichts wissen. Realpolitik hieß damals: Energie von dort beziehen, wo sie am günstigsten zu haben war. So wollten es auch die Wirtschaft und alle Lobbyisten. Und dagegen war nun mal nicht anzukommen.
Aber hätte man damals nicht noch viel schneller und entschlossener die regenerativen Energien ausbauen sollen? Hätten wir heute doppelt oder dreimal soviel Wind- und Solarenergie, dann bräuchten wir all das teure und umweltfeindliche Flüssiggas nicht einzuführen, mit dem wir nach dem Wegfall der russischen Gas-Importe nun unseren Energiehunger stillen. So hätten wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: dem Klimawandel etwas entgegengesetzt und uns unabhängig von Energie-Importen aus problematischen Herkunftsländern gemacht. Die Grünen wussten das alles schon damals. Aber auf sie hat ja keiner gehört, zumindest nicht genug.
Wäre es dann aber nicht auch schlauer gewesen, weiter auf Atomenergie zu setzen, statt mutwillig auf eine bereits vorhandene Energiequelle zu verzichten, die uns unabhängiger von zweifelhaften Energie-Importen gemacht hätte? Schließlich baut doch alle Welt die Atomenergie aus, und nur Deutschland unter Merkel hat im Alleingang den Ausstieg aus dieser Technologie vollzogen. Doch ist hier neben dem noch jahrtausendelang vor sich hin strahlenden hochgiftigen Atommüll und dem enorm CO2-emissionsbelastetendem Uranabbau (vorwiegend in Russland!) auch zu bedenken, dass laufende Atomkraftwerke natürlich erstklassige Angriffsziele in etwaigen kriegerischen Auseinandersetzungen sind – und das mitten in Europa. Nein, Merkels Atomausstieg war gewiss nicht verkehrt.
Aber wäre es nicht besser gewesen, wenn man schon ab 2005 eine kommunale Wärmeplanung durchgeführt, die Energieversorgung schrittweise flächendeckend und verpflichtend auf Fernwärme (aus perspektivisch nur noch sauberen Energiequellen) und lokalen Wärmepumpen umgestellt hätte, so wie es uns die skandinavischen Länder schon in den Neunziger- und Nullerjahren vorgemacht haben? Na ganz bestimmt, denn dann würden wir heute energetisch weitaus robuster dastehen. Doch außer den Grünen, auf die ja keiner gehört hat, hatte das niemand auf dem Plan.
Vermutlich wäre es auch besser gewesen, wenn man bereits damals in viel größerem Stil die Elektromobilität gefördert und mit viel Staatsgeld wie die Chinesen den Bau von Elektro-Autos forciert hätte. Dann wäre der deutschen Automobilindustrie heute nicht wie aus heiterem Himmel ihr Geschäftsmodell weggebrochen. Aber das wollte damals nun wirklich niemand – außer den Grünen.
Doch zurück zur Zeitenwende seit 2022. Hätte man denn die Gefährlichkeit von Putin-Russland nicht schon viel früher erkennen können und rechtzeitig die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr massiv ausbauen müssen? Ja, das wäre gut gewesen. Aber das wollte damals fast niemand sehen: nicht die Regierungsparteien und schon überhaupt nicht die damals in Teilen noch pazifistischen Grünen. Nur ein ansonsten durchweg erratischer und lügnerischer US-Präsident, mit dem wir ab kommenden Januar erneut für vier weitere Jahre das zweifelhafte Vergnügen haben werden (sofern er nicht sogar noch länger im Amt bleibt, indem er die amerikanische Verfassung außer Kraft setzt), hat in diesem Punkt vollkommen recht behalten.
Aber wäre es denn nicht besser gewesen, die Ukraine schon 2008 in die NATO aufzunehmen, als Russland noch längst nicht so hochgerüstet war wie heute, so wie es der damalige US-Präsident Bush jun. damals im Sinn hatte? Dieser Plan ist seinerzeit nicht zuletzt an Kanzlerin Merkel gescheitert, die erfolgreich für mehr Rücksichtnahme auf die Interessen Russlands geworben hatte. Damit hätte man 14 Jahre später wahrscheinlich den Ukraine-Krieg vermeiden können, denn ein NATO-Land anzugreifen, das hätte Putin sich vermutlich nicht getraut. Doch die westlichen Länder hätten sich Russland auf diese Weise schon ein paar Jahre eher zum erbitterten Feind gemacht, und über die russische Reaktion auf einen ukrainischen NATO-Beitritt zu jener Zeit lässt sich nur spekulieren…
Wäre es ferner nicht auch besser gewesen, wenn die Merkel-Regierungen die zwischenzeitlich extreme Niedrigzins-Phase dazu genutzt hätten, mit langfristigen kostenlosen Krediten in großem Stil unsere darbende Infrastruktur zu sanieren? Schulen und öffentliche Gebäude, Brücken, Straßen, Schienen und die Deutsche Bahn endlich wieder auf Vordermann zu bringen? Doch, das wäre gut gewesen. Aber dafür fehlte Merkels Kabinetten und insbesondere auch dem seinerzeit zuständigen Finanzminister Schäuble leider der Weitblick. Schwarze Null und schwäbische Hausfrau waren ihnen wichtiger. Auch von einem zügigen Ausbau der Digitalisierung ist in den Merkel-Jahren zwar oft die Rede gewesen, aber sonderlich schnell vorangekommen ist man hierbei nicht gerade.
Aber last, but not least, was Merkel am häufigsten und am lautesten vorgehalten wird: Hätte sie 2015 nicht den hunderttausenden syrischen Flüchtlingen den Eintritt in unser Land verwehren sollen? Wäre „Grenzen dicht machen“ nicht besser gewesen, als durch fröhliche Selfies mit den Ankömmlingen noch weiteren Nachschub von ihnen anzulocken? Hätte man durch mehr Strenge an den Außengrenzen nicht eine Reihe von späteren Amokläufen und Terror-Anschlägen durchgeknallter Islamisten verhindern können? Kann sein. Aber man hätte auch durch eine massive Jugend- und Sozialarbeitsoffensive, wie es sie heute sehr erfolgreich in Dänemark gibt, gewaltige Erfolge erzielen können, indem man die islamismusgefährdeten jungen Menschen von der Straße holt und in gemeinnützigen Projekten beschäftigt, die besser bezahlt werden als die Drogenkuriere der Organisierten und Clan-Kriminalität. Und so hätte man – auch hier wieder – zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Kriminalität und Islamismus bekämpft und zugleich langfristig die Folgen des demografischen Wandels abgemildert.
Doch hat Merkel durch ihre zu wenig strenge Migrationspolitik nicht den in höchstem Grade demokratiegefährdenden Aufstieg der rechtsextremistischen AfD mit herbeigeführt? Und als Spätfolge auch den des rechtslinkspopulistischen BSW? Teilweise wohl schon. Doch hätte es bei einer rechtzeitigen strengen Reglementierung der unsäglichen Sozialen Netzwerke, die mit freundlicher Unterstützung der omnipräsenten Putin-Trolle fortwährend ihre Lügen verbreiten, vielleicht gar nicht soweit kommen müssen. Wobei man hierzu allerdings wohl zunächst auf europäischer Ebene hätte ansetzen müssen, wie jüngst von unserem Wirtschaftsminister gefordert.
Aber war es denn nicht grob fahrlässig von Merkel, die deutsche Bevölkerung erst zu Integrationsbereitschaft und kultureller Offenheit aufzurufen und sie dann mit arabischen Messerstechern und sexuellen Belästigern in nicht ganz kleiner Zahl und dem weitverbreiteten Gefühl der Überforderung und der Fremdheit im eigenen Land alleinzulassen? Sicherlich wäre es angesichts der riesigen Herausforderungen angebracht gewesen, die Aufnahme der Flüchtlinge noch weitaus stärker mit massiven Anstrengungen in der Sozial- und Jungendarbeit – siehe oben – zu flankieren. Auch wären noch klarere Ansagen gegenüber den Neuankömmlingen für Grundwerte wie Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder gegen Homophobie und Antisemitismus von Anfang an wünschenswert gewesen. Doch werden wir angesichts des immer gravierender werdenden Fachkräftemanges – insbesondere in Ostdeutschland! – um die von Merkel völlig zu recht geforderte kulturelle Offenheit nirgendwo herumkommen, um auch nur einen Teil der offenen Stellen künftig noch besetzen zu können.
Unter dem Strich lässt sich somit zwar eine Menge an Versäumnissen während Merkels Kanzlerschaft feststellen – aber nur, wenn man die damaligen realen Machtkonstellationen außer Acht lässt. Ein Bundeskanzler (m/w/d) – und erst recht einer, der in Koalitionsregierungen stets eine Vielzahl oft entgegengesetzter Interessen zu moderieren hat – befindet sich immer auch in einem Wust von Sachzwängen und ist – anders als ein autokratischer Herrscher – eingebunden in streng geregelte Verfahrensabläufe. Natürlich ist es wünschenswert, dass die Person an der Spitze des Staates dem Land Orientierung gibt, ihm die Richtung weist. Aber hat Merkel hier mit „Wir schaffen das!“ und „Sie kennen mich“ wirklich eine so schwache Figur abgegeben, wie es nun vielfach behauptet wird? Merkels Politikstil war eine Art Fahren auf Sicht, was auch daran liegt, dass sie in relativ unübersichtlichen Zeiten zu regieren hatte. Heute, seit der Zeitenwende, sehen wir die Dinge vielfach auch klarer, die damals – jedenfalls für die meisten – noch im Nebel lagen. Es war noch nicht die Zeit für große Entwürfe, eher für „piecemeal engineering“ im Popperschen Sinne. Und darin war Angela Merkel nun einmal nicht die Schlechteste.