Klare Sache, und damit hip
Vor 50 Jahren erschien Eberhard Fechners Kempowski-Verfimung „Tadellöser & Wolff“
Thomas Claer
Was vergangen ist, das ist vorbei, und niemand kann es wieder zurückholen. Außer es wird so lebendig und begeisternd erzählt wie in den Romanen von Walter Kempowski (1929-2007) über seine Familiengeschichte in Rostock. Und erst recht lebt all das Vergangene wieder auf und ist sogar unsterblich geworden in der nicht minder genialen Verfilmung dieser Kempowski-Romane durch Eberhard Fechner, die vor 50 Jahren, am 1. und 3. Mai 1975, als Zweiteiler im ZDF-Abendprogramm erstmals ausgestrahlt wurde.
Ein Stück Geschichtsschreibung, vor allem auch Alltagsgeschichtsschreibung, ist auf diese Weise geglückt. Als Unterrichtsmaterial für heutige Schulkinder über die NS-Zeit würde man es sich zwar wünschen, doch ist das wohl unrealistisch angesichts der unverblümten, nach heutigen Maßstäben hochgradig unkorrekten Ausdrucksweise beinahe aller Film-Protagonisten. Ähnlich wie der zuletzt vieldikutierte Wolfgang-Koeppen-Roman „Das Treibhaus“ wären wohl auch die meisten Kempowski-Bücher oder -Verfilmungen der heutigen multikulturellen und achtsamen Schülerschaft nicht mehr zuzumuten, was ganz sicher verständlich und dennoch sehr schade ist. Denn hier wird unmittelbar und aus der damaligen Situation heraus das Leben in der braunen Diktatur geschildert: mit Militarismus, Chauvinismus, Nationalismus, autoritärer und gewaltsamer Kinder-Erziehung. Und mittendrin eine bürgerliche Familie, die sich voller Lebensfreude durch ihre Routinen bewegt, sich mit den politischen Verhältnissen arrangiert, punktuell auf Distanz geht und gleichzeitig in einer Gegenwelt aus scnodderigen Sprüchen und (bei den Nazis verpönter) Jazz-Musik aus dem Gramophon lebt.
Vor allem Vater Kempowski (großartig gespielt von Karl Lieffen), Schiffsreeder mit langer familiärer Vorgeschichte, nervös und cholerisch, ist gleichwohl nie um einen lustigen Schnack, wie man in Rostock sagt, verlegen. „Wo Tränen fließen, kann nichts gelingen“, ist seine Maxime. „Wer schaffen will, muss fröhlich sein.“ Er unterteilt die auftretenden Ereignisse in „Miesnitzdörfer & Jensen“ und in „Gutmannsdörfer“. Sein höchstes Lob lautet „Tadellöser & Wolff“ – in Anspielung auf seine favorisierte Zigarrenmarke „Loeser & Wolff“. Seinen Sohn Robert (grandios verkörpert von Martin Semmelrogge), den älteren Bruder von Erzähler Walter, würde man heute sicherlich als einen Hipster bezeichnen. Stilbewusst und entzückt von Jazzmusik und Kinofilmen gehört er zu einer jugendlichen Clique, die regelmäßig auf dem Schulhof trällert, hottet und swingt, was die Nazi-Lehrer sehr erbost („Wie die Tiere!“). Die jungen Leute gehen segeln auf der Ostsee und ziehen mitsamt Kurbel-Gramophon und Schellack-Platten zum Strand in Warnemünde. Nicht zuletzt dieser bürgerlich-jugendlichen Gegenkultur zum NS, in die auch der heranwachsende Erzähler Walter (mit zunehmend längeren Haaren!) mehr und mehr hineingezogen wird, setzt dieser Film ein Denkmal.
Doch auch Mutter Kempowski (sehr überzeugend dargestellt von Edda Seippel), Hamburger Kaufmannstochter aus einem hugenottischen Adelsgeschlecht, schimpft mitunter auf dieses „Nazi-Pack“. Niemals ist ein „Heil Hitler!“ über ihre Lippen gekommen; politisch hält sie es allerdings nostalgisch mit dem Kaiser. Mit einer ganz eigenen Mischung aus Naivität und Durchtriebenheit („Es ist doch zu und zu schön“) gelingt es ihr sogar, den von der Gestapo inhaftierten dänischen Schwiegersohn Sven Sörensen wieder frei zu bekommen. Dieser wiederum hält Familie Kempowski nachdrücklich den Spiegel vor, indem er sie mit seiner wenig positiven Meinung über die Deutschen und insbesondere die Nazis konfrontiert.
Darüber hinaus erzählt der Film (und mehr noch der Roman und seine tief in die Vergangenheit zurückgreifenden Nachfolger „Aus großer Zeit“ und „Schöne Aussicht“) auch ein Stück Wirtschaftsgeschichte. Großvater Kempowski hatte die Seereeder-Firma einst aus Königsberg kommend in Rostock aufgebaut. Nach rasantem Wachstum war das Unternehmen während der Weltwirtschaftskrise in arge Bedrängnis geraten. Die Großeltern mussten, um wirtschaftlich überleben zu können, zwei ihrer drei Rostocker Einfamilienhäuser und schließlich noch mehrere ihrer Schiffe verkaufen. Doch dann, unter der Nazi-Herrschaft, lief es wieder deutlich besser – bis sich beim Tod des Großvaters durch dessen unerwartete Überschuldung neue Probleme einstellten…
1979 drehte Eberhard Fechner dann noch die ebenfalls ausgezeichnete dreiteilige Fortsetzung „Ein Kapitel für sich“, diesmal allerdings leider ohne Martin Semmelrogge als Robert Kempowski, weil der aufmüpfige Jungschauspieler zuvor bei den Dreharbeiten zu „Tadellöser & Wolff“ offenbar häufiger frech geworden sein soll. Auch deshalb bleibt der Zweiteiler „Tadellöser & Wolff“ eine unerreichte Sternstunde des Deutschen Fernsehens. Oder um es mit Vater Kempowski zu sagen: Klare Sache, und damit hopp.
Tadellöser & Wolff
BRD 1975
192 Minuten; FSK: 12
Regie: Eberhard Fechner
Drehbuch: Eberhard Fechner
Darsteller: Edda Seippel (Margarethe Kempowski); Karl Lieffen (Karl Kempowski), Martin Semmelrogge (Robert Kempowski), Michael Poliza (Walter Kempowski) u.v.a.