Neue Rubrik: Recht philosophisch – Zur Staatstheorie des Dichters und Philosophen Friedrich Schiller
Jochen Barte
Bald kein Schmidt, kein Sloterdijk und kein Safranski mehr im deutschen Fernsehen? Nur noch allgemeine Verblödung? Tröstet euch, liebe Leserinnen und Leser, zumindest auf uns ist noch Verlass. Wir präsentieren hiermit unsere neue Rubrik RECHT PHILOSPOPHISCH. (Geleitwort der Redaktion)
Man stelle sich vor, ein Untoter aus der Epoche der Weimarer Klassik landete zufällig durch einen Zeitsprung im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Angenommen er wäre in der Lage mit unseren heutigen Medien irgendwie klarzukommen, wie würde er wohl den Zustand einer Gesellschaft wahrnehmen, die sich ihm nicht selten schon beim ersten medialen Kontakt in pornografisch-gieriger Penetranz entgegenblättert. Bikinimädchen bis zum Abwinken, Mord und Totschlag in der U-Bahn, Korruption und Betrug allerorten und bis in höchste Staatsämter, semiöffentlich kopulierende Staatspräsidenten, Hassblogs für angehende Massenmörder im Internet, Banker und Analysten, die bei Kaviar und Champagner amüsiert auf die Pleite ganzer Staaten wetten…alles free zum vergnüglichen Download und zum Nachmachen selbstverständlich. Würde er den Staat für eine Dirne halten, die genommen werden will, wie es der ehemalige französische Außenminister Domenique de Villepin mal prosaisch formuliert hat oder wäre er nur einigermaßen gelangweilt. Alles schon mal gesehen, nichts Neues unter der Sonne. Nobody is perfect. Es bleibt Spekulation, wenngleich anzunehmen ist, dass Goethe beispielsweise seine Italienreise heutzutage mit deutlich weniger Inspirationsgewinn beendet hätte. Und besonders Schiller. Hatte dieser doch seinerzeit ein komplettes staatstheoretisches System formuliert – quasi als Palliativ für eine entartete Zeit. Was war passiert? Die Französische Revolution hatte gerade stattgefunden und der Schock über die Gewaltexzesse der Jakobiner saß dem intellektuellen Europa noch in den Gliedern. Die Welt schien aus den Fugen geraten zu sein und so versuchte jeder sich einen Reim darauf zu machen. Goethe, der Freund der Mächtigen, tat es im Faust, vorsichtig und allegorisch sublimiert. Schiller holte weiter aus. Er begann eine Reihe ästhetischer Schriften in denen er sein Verständnis von Kunst und Gesellschaft darlegte. In seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ schreibt er, der abgebrochene Jurist, im Jahr 1795: „Wäre das Faktum wahr, wäre der außerordentliche Fall wirklich eingetreten, daß die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das Gesetz auf den Thron erhoben, und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen Abschied nehmen […].“ Nur weil das eigentliche Ziel der Revolution, ein humanes, rechtsstaatliches Gemeinwesen, verfehlt wurde, so darf man Schiller verstehen, behalten Kunst und Ästhetik noch eine bedeutsame Funktion. Hätte die Vernunft dagegen politische Gestalt angenommen, so wäre alle Poesie überflüssig. Daher kommt für den ernüchterten Schiller nunmehr der Sphäre der Kultur eine entscheidende Bedeutung zu. Sie soll nämlich jene Bedingungen produzieren, die eine politische Veränderung der Gesellschaft in Richtung Humanität, Egalität und Rechtsstaatlichkeit bewirken. Das mutet auf den ersten Blick bizarr an. Aber Schiller grundiert seine systemischen Überlegungen mit psychologischer Analyse. Er hat erkannt, dass „der Mensch sich auf eine doppelte Weise entgegen gesetzt sein kann: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören.“ Der Mensch bedarf daher, um überhaupt als solcher gelten zu können, der Verfeinerung. Er muss ethisches Handeln erst lernen. Eine These, die nicht weit entfernt ist von den Erkenntnissen der modernen Anthropologie. Und Schiller, der Hobbyhistoriker, verankert sie tief in der Geschichte. Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist die Antike. Eine Epoche, die für ihn noch nicht von der Blässe des Gedanken angekränkelt ist, die eine naive, unschuldige Einheit des Menschen mit sich selbst darstellt, in bukolisch-lyrischer Idylle. Dann aber wurde die Menschheit erwachsen. Und mit der Entwicklung der Ratio kamen auch die Zweifel, die Unrast, die Fragmentierung und die Dissoziation. Geist und Gefühl fanden nicht mehr zueinander, ja sie bekämpften sich stattdessen. Aus den edlen Wilden waren verrohte Barbaren geworden. Die Wunde, die die Moderne geschlagen hatte, musste geheilt werden. Die beiden auseinanderstrebenden Pole mussten wieder zusammengeführt werden, erst dann könne ein funktionierendes Gemeinwesen entstehen. Die Gretchen-Frage, wie die ästhetische Verfeinerung des Menschen in die Praxis überführt werden kann, erörtert Schiller allerdings nur vage. Er war ja Dichter – kein Bürokrat. Für ihn kündigt sich die Disposition zur Freiheit und Ganzheit vor allem im zweckfreien, zwanglosen Spiel, und der ästhetischen Wahrnehmung an, dem „schmelzenden Effekt des Schönen“. Dadurch werde der Mensch eins mit sich, womit die Grundlage für eine harmonische Gesetzgebung erreicht wäre. Schiller war nun freilich nicht so naiv, zu glauben, ein solches ideales Gemeinwesen ließe sich irgendwann in ferner Zukunft tatsächlich realisieren. Aber er glaubte an einen schrittweisen Näherungsprozess unendlicher Approximation, mithin an die Möglichkeit eines – wenn auch unvollkommenen – humanen Zusammenlebens, das sich im ethisch-legalistisch begründeten Handeln manifestiert. Und in diesem Punkt wird er wohl stets aktuell bleiben, auch wenn die großen philosophischen Denkentwürfe mittlerweile von den modernen analytischen Wissenschaften erledigt wurden.