Der demokratische Adel lässt nicht locker

Klaus von Dohnanyi hat sein umstrittenes Buch „Nationale Interessen“ neu aufgelegt

Matthias Wiemers

Es war für viele ein Skandal, als wenige Wochen vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ein außenpolitisches Buch des SPD-Veteranen Klaus von Dohnanyi erschien. Gleichwohl: Es fand seine Abnehmer und Leser. Denn wer im Jahrgang 1928 geboren wurde und wessen Vater in jungen Jahren von den Nazis ermordet wurde, kann seine Meinung in diesem Land frei äußern – auch wenn er vielleicht als Adeliger nicht ohne weiteres den Sozialdemokraten zugeordnet wird (Und in der Tat fallen einem auch nicht viele Vertreter des Adels in der deutschen SPD ein – Waldemar von Knoeringen in Bayern wäre ein Beispiel –, denn in Deutschland wurden „Sozis“ auch nicht geadelt – ganz im Gegensatz zu Großbritannien!).
Aber aus dem in gleich mehrerer Hinsicht untypischen Lebensweg Klaus von Dohnanyis erwächst schon die Vermutung von Glaubwürdigkeit, die noch dadurch verstärkt wird, dass jemand jenseits der 90 garantiert „nichts mehr werden will“ – was bei Politikern ja immer ein wichtiger Punkt ist (anders kann man sich das Verhalten vieler Vertreter dieser Spezies in den letzten Jahrzehnten kaum erklären).
Der Autor hat nun zu einer Neuauflage gegriffen und das Buch als solches zu recht unangetastet gelassen (Es ist ja kein juristisches Lehrbuch, das stets dem aktuellen Gesetzesstand entsprechen muss, um wo es nötig erscheint, Studierende auch einmal in die juristische Seminarbibliothek zu treiben).
Zum neuen Vorwort möchte ich nur anmerken, dass der Autor hier die jüngsten Entwicklungen beschreibt, auch die Reaktionen auf sein Buch, die zeigen, dass die tonangebenden Politiker in Deutschland die Erkenntnisse des Autors nicht wahrhaben wollen. Nur eines soll noch erwähnt werden: von Dohnanyi wirft der Ampel-Regierung und auch der CDU vor, sich niemals ernsthaft mit der Regulierungswut der EU auseinandergesetzt zu haben – ein zentrales Thema auch des Buchs. Da das Buch inhaltlich nicht angegriffen wurde, musste das neue Vorwort aber dann doch 50 Seiten umfassen.
Dieses Buch beginnt mi einem knappen Einleitungskapitel, das in der Gegenwart des Jahres 2021 einsetzt.
Ein wichtiger Satz dieses Kapitels ist der folgende: „Heute ist Russland auf dem besten Wege, für das von den USA zurückgelassene Chaos im Nahen Osten eine politische Ordnungsmacht zu werden“ (S. 69). Waren wir nicht alle gelegentlich überrascht, wenn wir von den Medien erfuhren, wo die Russische Föderation inzwischen auch militärische Aktivitäten entfaltet? Wenn wir uns aber an die Reaktionen des „Westens“ auf den 11. September 2001 erinnern, können wir eigentlich nur mit dem Kopf schütteln.
Im zweiten Kapitel „Deutschland und Europa zwischen den Interessen der Großmächte“ wird zunächst an die bleibende Bedeutung von Nation und Nationalstaat erinnert. Sodann zeigt der Autor auf, aus welchen geopolitischen Interessen die Großmacht USA handelt. Zitat: „Aber das wollen die USA verhindern, sie wollen die Außenpolitik der Europäischen Union gegenüber China hegemonial mitbestimmen und lenken, denn sie, die USA, wollen erklärtermaßen die einzige Weltmacht bleiben. Kann das gut gehen? Ist das in Europas Interesse?“ (S. 98)
Im dritten Kapitel „Kein Frieden für Europa?“ wird dargestellt, wie die USA Großbritannien mit seiner Strategie Balance of Power abgelöst haben und 1945 den Frieden in Europa überhaupt herbeigeführt haben“.
Die Europäische Union wird im vierten Kapitel als deutsche Aufgabe apostrophiert, wobei der Autor darlegt, dass Europa nur als Wirtschaftsmacht bestehen könne. Darin erweist sich von Dohnanyi als Fan des Generals de Gaulle (Hinweis an das Lektorat: Auf S. 185 müßte es „Europa der Vaterländer heißen“, nicht „Vaterland der Vaterländer“.)
Der Autor tritt u. a. für „mehr Toleranz und weniger Prinzipienreiterei“ innerhalb Europas ein und kritisiert in diesem Zusammenhang auch den ersten Kommissionspräsidenten Walter Hallstein, der Europa bekanntlich als Rechtsgemeinschaft angesehen hatte. Das passende Zitat hierzu lautet – besonders für Juristen interessant: „Es ist ein Irrtum zu glauben, Europa werde durch Recht und Gesetz zusammengehalten. Europa kann nur durch Politik zusammengehalten werden“ (S. 199).
Im fünften Kapitel wird dann folgerichtig die Frage aufgeworfen, ob Europa denn auf dem Wege zu einer Wirtschaftsmacht sei. Und im Ergebnis wird die Frage eher verneint. Der Text setzt schon mit der Überschrift ein, die EU-Kommission behindere die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Recht hat er! Gleichwohl dürften die zahlreichen in dem Kapitel gemachten Vorschläge kaum noch zu realisieren sein – so verfahren ist die Situation, die die Tagträumer einer „ever closer union“ in Konventen und Vertragsnovellen herbeigeführt haben. Dass die institutionellen Gegebenheiten nicht mehr zu der heutigen 27er EU passen, sollte spätestens seit dem Brexit jeder verstanden haben. Bei von Dohnanyi wird das alles etwas feiner ausgedrückt. Er fordert etwa, die Bundesregierung solle auch öffentlich mehr Konzilianz gegenüber Polen und Ungarn von der EU-Kommission fordern. Der Brexit sei nämlich ein großer Verlust für Europa gewesen (S. 256). Recht hat er!
Der Band schließt mit einem kürzeren Kapitel über „Was jetzt zu tun ist“, wo völlig zu recht der Klimawandel zu Beginn als größte heutige Bedrohung festgestellt wird. Richtig ist auch die Feststellung, die Interessen des modernen Staates seien mit Krieg nicht mehr vereinbar (S. 271). Es werden dann insgesamt zehn Thesen aufgestellt, die jeder nachlesen sollte, der an Realpolitik interessiert ist – von der vorrangigen Bedeutung des Klimawandels bis hin zum Ausbau der diplomatischen Fähigkeiten und mehr Wirtschaftskompetenz in staatsleitenden Stellen (S. 272 ff.).
Fazit: Insgesamt ein sehr lesenswertes Buch eines lebens- und politikerfahrenen Autors. Realistisch dürfte allerdings nur das Wenigste der unterbreiteten Vorschläge sein. Die verfassungsmäßig vorgegebenen Pfadabhängigkeiten in Europa und der Bundesrepublik erscheinen dem Rezensenten jedenfalls als zu hoch – und ja: das im Wohlstand aufgewachsene Politpersonal ist zu schwach. Und dies unterscheidet es eben von Menschen wie Klaus von Dohnanyi.

Klaus von Dohnanyi
Nationale Interessen. Aktualisierte Neuausgabe
Siedler Verlag, 2025
304 Seiten; 26 Euro
ISBN: 978-3-8275-0208-7

Veröffentlicht von on Okt. 13th, 2025 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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