Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
logisches Denken, das konnte ich immer gut. Zumindest hatte ich das geglaubt, bis ich meine Juristenausbildung absolvierte. In der Schule war ich mit meiner Art zu denken noch immer ganz gut durchgekommen. Selbst in Mathe in der Oberstufe, wo ich manchmal schon an die Grenzen des für mich noch Nachvollziehbaren stieß, hatte ich mich noch mühsam durchgekämpft, indem ich manchmal bis tief in die Nacht die Aufgaben der letzten Stunde repetierte. Doch dann im Jurastudium half das alles nichts mehr. Es muss wohl schon in den unteren Semestern gewesen sein, als ich beim Lesen eines Lehrbuchs (wahrscheinlich war es Schuld- oder Sachenrecht) an eine Stelle kam, wo ich der Meinung war, die Formulierung könne hier nicht stimmen, da müsste eigentlich genau das Gegenteil stehen. Ich las den betreffenden Satz zweimal, dreimal, viermal, immer wieder, auch noch einmal im Zusammenhang der vorherigen Seiten. Nein, das konnte doch nicht richtig sein. Wahrscheinlich war das ein Fehler im Lehrbuch. So dachte ich in meinem jugendlichen Größenwahn. Leider erlebte ich aber Vergleichbares in den folgenden Semestern noch häufiger. Es war unmöglich, mich mit anderen Kommilitonen darüber auszutauschen, denn dann hätte ich den Betreffenden zunächst umständlich den gesamten Zusammenhang erklären müssen. Soviel Geduld, da war ich mir ganz sicher, hätte keiner meiner Freunde und Bekannten aufgebracht. Anders war es dann aber, als das Examen immer näher rückte und wir Lern-AGs gründeten. In mir hatte sich, aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen, die Überzeugung verfestigt, dass Jura in mancher Hinsicht nicht immer ganz logisch sei, mitunter geradezu unlogisch. Nun hatte ich aber das Glück, mit einem der wenigen juristischen Überflieger in einer Lern-AG zu sitzen, der noch dazu keineswegs dem Klischee des Spitzenjuristen entsprach, der „auch sonst von mäßigem Geiste“ ist. Weder war er völlig ungebildet, noch war er ein Mensch ohne Hobbies und anderweitige Interessen. Man konnte mit ihm über Politik diskutieren und über Mädchen, ja selbst über Popmusik. Er war es sogar, der mich auf Tocotronic gebracht hat, indem er mir eine ihrer frühen CDs ausgeliehen hatte. Und ausgerechnet aus seinem Munde musste ich in unserer AG den für mich niederschmetternden Satz hören: „Jura ist doch völlig logisch.“ Er könne es einfach nicht mehr hören, dass alle Welt behaupte, Jura wäre unlogisch. Es sei doch alles so glasklar… In diesem Moment musste ich mir eingestehen, dass mein fehlendes Verständnis wahrscheinlich doch auf mich selbst oder zumindest auf meine Denkweise zurückzuführen war. Und doch nahm ich mir insgeheim vor, mich irgendwann später einmal mit den Grundlagen des juristischen Denkens auseinanderzusetzen, um so vielleicht den Nachweis zu erbringen, dass mit der juristischen Logik etwas nicht stimmt. Dazu ist es aber bis heute nicht gekommen. Es ist mir inzwischen nämlich ganz einfach egal geworden, wie logisch oder unlogisch die Rechtswissenschaft ist oder nicht ist. Das Leben, so sehe ich es heute, ist definitiv zu kurz, um es sich durch solcherlei Betrachtungen zu verderben. Also Schluss damit!!!
Dein Johannes