Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
als ich mit 17 Jahren aus der (unmittelbar vor ihrem Untergang stehenden) DDR in den goldenen Westen kam, gehörte das Wort „Spießer“ noch nicht zu meinem aktiven Wortschatz. Unter meinen neuen Mitschülern in Bremen zählte es aber zu den beliebtesten Schimpfwörtern. Bald merkte ich, dass sie damit auch viele meiner Eigenschaften und noch viel mehr jene meiner Eltern meinten. Ordnung, Disziplin, Genauigkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, das alles war mir wohl damals schon in Fleisch und Blut übergegangen. Und noch viel schlimmer wurde es für mich in den Augen meiner neuen Freunde, als meine Eltern und ich aus der engen Wohnung in der Innenstadt ausgerechnet in ein Reihenhaus mit Garten am Stadtrand zogen. Das war ja sowas von uncool! Dass mein Vater zu jener Zeit auch noch einen kleinen Bausparvertrag für mich abgeschlossen hatte, habe ich zum Glück niemandem erzählt. „Oh mein Gott, wie spießig!“, hätte wohl jeder in meinem Umfeld dazu gesagt.
Natürlich hatte ich mich auf dem Bremer Gymnasium rasch meiner neuen sozialen Umgebung angepasst, ließ mir die Haare lang wachsen, trug eine Rocker-Lederjacke und hörte schon bald die allerschrägste Indie-Musik. Meine Eltern sahen dies mit Befremden. Und doch war wohl schon damals so viel inneres Spießertum fest in mir verankert, dass ich es niemals schaffen konnte, so cool zu werden wie meine Freunde mit ihren ultra-lockeren Eltern, die sich mir regelmäßig mit Vornamen vorgestellt und mir gleich das Du angeboten hatten. Besonders verinnerlicht hatte ich wohl die Maßstäbe meiner Eltern für Zuverlässigkeit. Mit jemandem, der einmal gegebene Zusagen nicht einhält oder zu Verabredungen nicht rechtzeitig erscheint, auf den man sich also nicht vollkommen und absolut verlassen kann, sollte man am besten überhaupt nicht mehr verkehren, so hatte ich es offenbar von meinen Eltern vorgelebt bekommen. Diese hohe Erwartungshaltung an meine Mitmenschen brachte mich bald in ein gehöriges Dilemma, denn gerade einer meiner Freunde, den ich besonders mochte, der so vielseitig interessiert, so witzig und originell war und sich so gut ausdrücken konnte, war ganz und gar unzuverlässig. Manchmal kam er zu Verabredungen mit erheblicher Verspätung, manchmal gar nicht. Was sollte man da machen? Irgendwann, als ich es satt hatte, habe ich den Kontakt zu ihm abgebrochen. Niemand, nicht einmal Google weiß, was später aus ihm geworden ist…
Noch heute kann es mich manchmal zur Weißglut bringen, wenn andere nicht zuverlässig sind, ansonsten bin ich mit dem Alter aber wohl fast in jeder Hinsicht milder und toleranter geworden. Dennoch halte ich es unverändert für keine besonders gute Eigenschaft, wenn jemand mehr verspricht, als er (oder sie) später auch halten kann… Was ich heute meinen Schülern und Studenten auf den Weg mitzugeben versuche, ist unbedingte Zuverlässigkeit, obwohl ich merke, wie ich damit bei vielen von ihnen auf taube Ohren stoße. Von diesem „weichen“ Erziehungsziel werde ich auch in Zukunft nicht abrücken. Wie sagte einst der heute fast vergessene Fernseh-Humorist Harald Schmidt: „Die Spießer, das sind die, die den ganzen Laden am Laufen halten. Ohne sie würde alles zusammenbrechen.“
Dein Johannes