Fabian Michl zeichnet ein umfassendes Lebensbild Wiltraut Rupp-von Brünnecks (1912-1977)
Matthias Wiemers
Wohl niemand wird bestreiten wollen, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinen mehr oder weniger ausgeprägten und bekannten Richterpersönlichkeiten an der politischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland maßgeblichen Anteil genommen hat.
Richterpersönlichkeiten fanden sich allerdings eher in früheren Jahrzehnten als gegenwärtig – auch wenn das Gericht heute national wie international mehr für seine „Öffentlichkeitsarbeit“ tut als je zuvor. Die zweite Richterin überhaupt war – nach Erna Scheffler – Wiltraut Rupp-von Brünneck, die von 1963 an Richterin des Ersten Senats gewesen ist.
Aufmerksam wurde ich auf das hier kurz vorzustellende Werk durch einen kleinen Bericht im SPIEGEL vom 9. April 2022, der unter der Überschrift „Totale Wende“ die „braune Vergangenheit“ der über die SPD nach Karlsruhe entsandten Richterin hervorhob. Der Gedanke an die spät bekanntgewordene Vergangenheit Günter Grass´ in der Waffen-SS drängte sich ein wenig ins Bewusstsein.
Doch, so wird man sagen müssen, ganz so einfach ist die Sache nicht. Die in einem Publikumsverlag erschienene Arbeit trägt den Untertitel „Juristin, Spitzenbeamtin, Verfassungsrichterin“ und zeichnet das Bild einer aus alter, konservativ bis deutschnational eingestellter Brandenburgischer Adelsfamilie stammenden Frau, unter deren Vorfahren sich bereits bedeutende Juristen befanden und die – wie dies seinerzeit üblich war – ihr Studium an insgesamt vier Universitäten verbrachte und es dennoch schnell beendete. Und dies, nachdem sie nach dem Abitur 1931 auch noch eine Landwirtschaftliche Frauenschule besucht hatte, wie dies seinerzeit durchaus den Erwartungen an junge Frauen von Adel und Bürgertum noch entsprach. Im Rahmen des Kapitels „Studium im Umbruch“ lernen wir zugleich einiges über die veränderten Studienbedingungen in der aufkommenden NS-Herrschaft, wie es kaum je jemand – jedenfalls nicht unter dem besonderen Fokus auf den weiblichen Juristennachwuchs – zusammengetragen hat.
„Juristin in der Volksgemeinschaft“ fasst die Zeit von 1937 bis 1945, mithin Referendariat und Tätigkeit von Brünnecks im Reichsjustizministerium zusammen. Die junge Juristin, die bereits im Ersten Staatsexamen die Bestnote erreicht hat, findet durchaus Förderer, die sie bis in den Ministerialdienst bringen – obwohl der Nationalsozialismus hier durchaus nicht als System der Frauengleichberechtigung erscheint (vgl. S. 36). Michl weist aber nach, dass die Bestnote im Zweiten Staatsexamen nur aufgrund des Gesamteindrucks nochmals mit der Bestnote bewertet wurde (S. 96), wie dies schon im Ersten Examen der Fall gewesen war (S. 56). Ein Promotionsvorhaben bei dem stark NS-belasteten Arbeitsrechtler Wolfgang Siebert wird nicht abgeschlossen, sondern der Weg in die Ministerialverwaltung gesucht (Michl Schildert auch, wie Siebert in der früheren Bundesrepublik schließlich doch noch ein Ordinariat in Göttingen erlangt). Siebert erscheint hier allerdings – so möchte man sagen –, als früher Frauenförderer unter den Juristen, da gleich mehrere Freundinnen von Brünnecks bei ihm erfolgreich promovieren.
Man erfährt sodann wie von Brünneck in das neugeschaffene Bundesland Hessen gelangt, beim Ausfüllen von Fragebögen auch schon mal schummelt und deshalb als vom hessischen Entnazifizierungsgesetz als „nicht betroffen“ gilt (S. 161; dies betrifft auch Veröffentlichungen während des NS-Regimes (S. 154 f). Zwar war die junge Juristin kein Parteimitglied gewesen, gehörte aber der NS-Frauenschaft und dem NS-Studentenbund an.
Auch „Persilscheine“ für Kommilitoninnen und Kommilitonen sowie Kollegen stellte von Brünneck aus (S. 162 ff.). Immer wieder – so zeigen die Schilderungen Michls – droht die Entdeckung als NS-belastet. Aber von Brünneck hat Glück und steigt in der hessischen Justizverwaltung auf, wo sie schon früh von dem SPD-Minister und späteren langjährigen Ministerpräsidenten Georg August Zinn gefördert wird. Zwar tritt von Brünneck erst Anfang 1947 in den Dienst des Ministeriums ein – die Hessische Landesverfassung ist schon in Kraft –, aber bei der Entstehung des Grundgesetzes ist sie doch mittelbar beteiligt. Denn Zinn, sein hessischer CDU-Kollege Heinrich von Brentano und der FDP-Mann Thomas Dehler bilden den allgemeinen Redaktionsausschuss des Parlamentarischen Rates, wo von Brünneck Zinn unmittelbar zuarbeitet. Dies hellt der Autor auf, obwohl es über die Mitarbeiter der Mitglieder des Parlamentarischen Rates keine Aufzeichnung gibt, und stellt den Zusammenhang zur Gleichberechtigungspolitik her, die unter wesentlicher Beteiligung des weiblichen Mitglieds im PR, der Kasseler Rechtsanwältin Elisabeth Selbert, schon bei der Schaffung des Grundgesetzes ihren Ausgang nimmt (S. 172 ff.).
Der Autor schildert, wie Wiltraut von Brünneck von Zinns Nachfolger, dem CDU-Justizminister Erwin Stein, ihrem späteren Kollegen am BVerfG, weiter gefördert wird, und dann später Abteilungsleiterin in der Hessischen Staatskanzlei (Abteilung IV, Bundesratsangelegenheiten) wird, die Michl als „bundespolitische Schaltstelle Hessens“ bezeichnet (S. 197).
Neben den Schilderungen über Fragen der Gleichberechtigung, in den sich von Brünneck für „das rote Hessen“ über den Bundesrat engagiert, ist besonders eindrucksvoll die Schilderung des „Fernstreits“, der zum ersten Fernsehurteil des BVerfG im Jahre 1961 führen wird (S. 224 ff.). Man liest hier einiges über das Verhalten von Verfassungsrichtern, insbesondere was ihre parteipolitischen Bindungen angeht. Auch sonst erfährt man einiges über die Richter des BVerfG, nicht nur später über den besonderen Kollegen Hans Georg Rupp aus dem Zweiten Senat des BVerfG, den von Brünneck 1965 heiratet (S. 257 ff.).
Die Schilderung der erstes Amtszeit Wiltraut von Brünnecks als Richterin des BVerfG überschreibt Michl mit „Im Namen des Menschen (1963-1971)“ und die zweite mit „Mehrheit und Minderheit (1971-1977). Die Zäsur geht nicht nur einher mit der Wiederwahl, die seinerzeit noch möglich war, sondern auch mit der seit 1971 bestehenden Möglichkeit, abweichende Meinungen überstimmter Richter als Sondervotum den Senatsentscheidungen anzufügen, wovon Wiltraut Rupp-von Brünneck einige Male Gebrauch gemacht hat. Besonders bekanntgeworden ist hierbei die gemeinsam mit Helmut Simon verfasstes Sondervotum zum ersten Abtreibungsurteil von 1975.
Zu recht betont der Autor schon im Vorwort, dass natürlich dann eine besondere Einflussnahme anzunehmen sei, wenn die Richterin die Senatsmehrheit für ihren Entscheidungsvorschlag gewinnen konnte (S. 9). Dies ist sicher richtig, allerdings wird man sagen müssen, dass gerade die Sondervoten auch Meinungsänderungen in den Senaten viel besser andeuten, als dies vor 1971 erkennbar gewesen ist. Akten aus den Verfahren vor dem BVerfG – so betont der Autor – unterliegen einer besonderen Sperrfrist von 60 Jahren, und Akten aus der Verwaltung des Gerichts aus den 60er und 70er Jahren seien verschollen (S. 10). Dennoch gelingt es ihm, durch Einsichtnahme in zahlreiche Nachlässe ein lebendiges Bild auch dieser Zeit zu zeichnen, das zugleich zahlreiche Werke über die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind, in ihrer Tiefe übertrifft.
Fabian Michl ist seit 2021 Junior-Professor für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Recht der Politik in Leipzig und befindet sich auf einem Tenure Track zu W3. Ihm ist für dieses ausgewogene Portrait der juristischen Zeitgeschichte zu danken – obwohl er mit dieser umfangreichen Arbeit sein Habilitationsprojekt sicher nicht unbedingt beschleunigt haben wird. Denn er schließt eine wichtige Lücke der rechtshistorischen Forschung. Inwieweit die von ihm Portraitierte etwa als Karrierejuristin bezeichnet werden muss, als Opportunistin o. ä., wirft Michl nicht einmal als Frage auf. Er hat vielmehr erfolgreich versucht, zu kontextualisieren. Die Darstellung Michls lässt keine Wünsche offen und lohnt die Lektüre – auch im Hinblick auf die ebenfalls beschriebenen zahlreichen anderen Juristinnen und Juristen. Uns Heutigen, die wir doch wohl in freieren Zeiten leben, gibt der Autor die Möglichkeit, selbst zu urteilen. Und mehr kann man nicht verlangen.
Fabian Michl, Wiltraut Rupp-von Brünneck (1912-1977). Juristin, Spitzenbeamte, Verfassungsrichterin, Campus Verlag, 558 S., 39 Euro. ISBN 9783593515236