Die „Fluchtnovelle“ von Thomas Strässle
Thomas Claer
Ein skrupulöser Mann, der sonst nie im Leben etwas Verbotenes tun würde, findet die große Liebe seines Lebens. Doch die beiden Liebenden sind getrennt voneinander durch den „Eisernen Vorhang“ der damals, Mitte der Sechzigerjahre, noch Europa in zwei miteinander verfeindete Hälften teilte. Die Protagonisten treffen sich so oft, wie die Umstände es zulassen. Doch das ist den beiden füreinander Entflammten natürlich viel zu wenig. Es ergreift ihnen, um es mit Schiller zu sagen, die Seelen mit Himmelsgewalt. Da standen sie nun und konnten nicht anders – und schmiedeten einen abenteuerlichen Fluchtplan. Das ist die überaus romantische Ausgangslage in der Fluchtnovelle“ des Schweizer Autors Thomas Strässle, der darin die wahre Geschichte seiner Eltern erzählt. Oftmals sind ja die tatsächlichen Begebenheiten, jedenfalls wenn sie gut erzählt sind, noch weitaus interessanter als jede Fiktion, die leicht „zu konstruiert“ wirken kann. Hier it es so, dass sich wohl kaum jemand eine noch herzergreifendere Geschichte hätte ausdenken können. Und im Bewusstsein der Intensität seines erzählerischen Materials hat sich der Verfasser der „Fluchtnovelle“ bei der literarischen Umsetzung die größtmögliche Zurückhaltung auferlegt, was seinem Werk sehr gutgetan hat. Das Geschehene spricht für sich selbst, und mit wenigen Strichen und gelegentlichen, aber vielsagenden Einschüben der damaligen Gesetzeslage gelingt es ihm sehr effektvoll, den Leser in seinen Bann zu ziehen.
Genauso sollte eine Novelle sein: eine „unerfhörte Begebenheit“, kurz und knackig berichtet, auf den Punkt gebracht. Alles Übrige bleibt der Phantasie des Lesers überlassen. Hier kommt nun aber noch hinzu, dass eine große erzählerische Spannung erzeugt wird, obgleich der glückliche Ausgang der Geschichte doch schon von Anfang an feststeht. Ein Nebeneffekt sind ferner die tiefen rechtshistorischen Einblicke, die hier vermittelt werden. Minutiös wird festgehalten, auf welche Weise sich die beiden Liebenden mit ihren Handlungen (und auch schon mit ihren Vorbereitungshandlungen, ja bereits mit ihren gedanklichen Planungen) strafbar gemacht haben – sowohl nach damaligem DDR- als auch nach Schweizer Recht. Gerechtfertigt waren ihre fortwährenden Gesetzesbrüche (insbesondere Republikflucht und Urkundenfälschung) allein durch den moralischen Notstand ihrer Liebe. Und ohne Schuld handelten sie dabei natürlich auch – wegen Unzurechnungsfähigkeit aufgrund von Liebestrunkenheit.
Thomas Strässle
Fluchtnovelle
Suhrkamp Verlag, 2024
123 Seiten; 18,00 Euro
ISBN: 978-3-518-47448-8