Schulze-Fielitz und Kollegen haben noch einmal in den Spiegel geschaut
Matthias Wiemers
Man schrieb das Jahr 2013, als der Würzburger Staats- und Verwaltungsrechtler Helmuth Schulze-Fielitz ein außergewöhnliches Werk auf den Markt brachte: „Staatsrechtslehre als Mikrokosmos“. Sozusagen als Gimmick vorab hatte er bereits etwa 15 Jahre früher insgesamt vier Poster auf den Markt gebracht, auf denen die Genealogie(n) der Deutschen Staatsrechtslehrer dargestellt wurden. Mit seinem Werk, das die genealogischen Tafeln in viele Buchseiten zergliedert als Anlagen enthielt, hatte Schulze-Fielitz den (erfolgreichen) Versuch unternommen, die deutsche Staatsrechtslehre in ihrer Entwicklungsgeschichte darzustellen. Das Buch wurde hier auch knapp gewürdigt. Nunmehr wurde das Werk nach neun Jahren noch 2022 neu aufgelegt. Wenngleich sich der Preis praktisch verdoppelt hat, ist er mit 99 Euro immer noch als sehr günstig zu bezeichnen, wenn man allein an die farbigen genealogischen Tafeln denkt, die zudem damals wie jetzt auch zum Ausklappen sind. Der Band müsste im Ergebnis ein Mehrfaches kosten. Was ist aber nun neu? Neben der Aktualisierung der Farbtafeln über diese ganz spezielle Wissenschaftlerfamilie enthält der Band natürlich ein neues Vorwort und darüber hinaus noch drei neue Beiträge, die freilich wiederum alle zuvor schon an anderer Stelle erschienen sind. Im Text „Über Berufungen und Karrieren in der deutschen Staatsrechtslehre“ (S. 145 ff.) setzt sich der Autor zunächst mit dem Doppelsinn von „Berufung“ auseinander und zeigt dann Bestimmungsfaktoren für Berufungschancen auf. Neben den teilweise bekannten Umständen insbesondere auch den äußeren, freie Stellen betreffenden, enthält der Beitrag auch einen kleinen Abschnitt zur „Genderpolitik“ (S. 158). Hier konstatiert der Autor, dass „habilitierte Frauen – anders als Männer – seit eineinhalb Jahrzehnten regelmäßig und zügig den Weg auf eine Universitätsprofessur finden.“ Die Frauendiskriminierung erscheine „kaum mehr in Berufungsverfahren manifest (wohl aber in den Phasen bis zu einer Habilitation)“ (S. 158 f.).
Woher Schultze-Fielitz diese Erkenntnis gewonnen haben will, bleibt sein Geheimnis. Unter dem Gesichtspunkt möglicher „Karrieren“ passen auch die Betrachtungen zu den Richterwahlen zum BVerfG (S. 170 ff.) in den Text, und die Darstellung der gescheiterten Kandidatur Horst Dreiers zum Verfassungsrichter (und dann wohl auch Präsidentschaftskandidat) ist zwar nicht wirklich neu, verdient aber doch einer gewissen Verbreitung – zumal einige Erkenntnisse über die Frühzeit des BVerfG und seine politische Verstrickung erst allmählich der Forschung geöffnet werden. Im Beitrag „Rezensierte (Verwaltungs-)Rechtswissenschaft“ (S. 405 ff.) unterbreitet Schulze Fielitz interessante Aspekte einer möglichen Qualitätssicherung im Rezensionswesen, beschreibt aber auch die Schwierigkeiten, die etwa Zeitschriftenredaktion bei der Vergabe von Rezensionsaufträgen haben, weil sie nicht ausreichend Rezensenten finden. Die Kritik ist bedenkenswert, obgleich der Autor dieser Zeilen den Vorwurf in Fn. 41, der hier wiederholt erhoben wird, als übertrieben empfinden muss.
Der letzte neue Beitrag lautet „Die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts im Prozess der Selbstreflexion – eine (Zwischen)-Bilanz“ (S. 432 ff.). In diesem Beitrag zeigt Schulze-Fielitz, dass er mit seiner Arbeit der Beschreibung seines Faches in der Tat nicht allein steht, dass vielmehr die Wissenschaft des öffentlichen Rechts unter verschiedenen Gesichtspunkten selbstreflexive Diskurse unterhält, und zwar in der Methodenlehre und unter den Aspekten von Ökonomisierung, Rechtsprechungspositivismus, Theoretisierung, Rechtserzeugungskontingenz, Historisierung und Soziologisierung.
Alles in allem stellt der Band auch in seiner erweiterten Version eine geistreiche Sammlung von Beobachtungen und (gesammelten) Gedanken aus der Zunft der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht dar, deren Quintessenz gerade die Selbstreflexion sein könnte. Ergänzend wird auf meine frühere Besprechung der Erstauflage hier an diesem Ort verwiesen. Man muss dem Autor nicht in allen Punkten folgen, aber immerhin regt er zum Nachdenken an. I dem nachfolgend zu besprechenden Band bildet dieses Werk das wohl am häufigsten referierte.
Beim zweiten hier vorzustellenden Band fällt eine knappe „Besprechung“ ungleich schwerer. Es handelt sich um die anlässlich des 100jährigen Jubiläums der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer im Jahre 2022 erschienene Gesamtdarstellung dieser Vereinigung, von deren Mitgliedern sich in der Vergangenheit immer einmal wieder Einzelne zu einer Teildarstellung der Geschichte der Vereinigung veranlasst sahen. Unter der Herausgeberschaft von insgesamt fünf Mitgliedern der Vereinigung – neben Helmut Schulze-Fielietz sind dies die Rechtshistorikern Pascale Cancik (Osnabrück), Andreas Kley (Zürich), Ewald Wiederin (Wien) und Christian Waldhoff (Berlin). Die Fünf wurden im Auftrag der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer tätig, die bekanntlich im Jahre 1922 von Heinrich Triepel in Berlin ins Leben gerufen wurde. Diese Information bildet praktische einen Ausgangspunkt, von dem aus auch die Einzelbeiträge des Bandes ausgehen, beginnen mit einem Beitrag von Christoph Schönberger (Köln), der die Gründung der Vereinigung in die Weimarer Republik hineinstellt. Der Beitrag enthält u. a. zwei Fotografien der heutigen Humboldt-Universität, darunter eine des damaligen Senatssaals, in dem die erste offiziell dokumentierte (VVDStRL 1) Tagung 1922 stattfand – unvorstellbar aufgrund der heutigen Größe der Vereinigung. Eingeklappt in den Beitrag finden wir hier nochmals abgedruckt das Gruppenfoto von der berühmten Münsteraner Tagung 1926, an der der Methodenstreit seinen Ausgang nahm. Von den 39 abgebildeten Personen konnten bis heute nicht alle identifiziert werden, wobei einige weitere Teilnehmer wohl nicht am Fototermin anwesend waren. Andreas Kley (Zürich) folgt mit einer Darstellung der Vereinigung in der NS-Zeit und ihrer Auflösung. Anna-Bettina Kaiser (Berlin) wirft in ihrem Beitrag über die Neugründung der Vereinigung die Frage nach einer „Arbeits- oder Bekenntnisgemeinschaft?“ auf und berichtet über die Zeit bis 1970. Zu Beginn ging es nach Kaiser um die Frage, ob sich die wiederaufzunehmenden Mitglieder zur Demokratie bekennen oder ob es sich um eine politisch neurale Vereinigung im Sinne einer Arbeitsgemeinschaft handeln solle, was sich als Frage insbesondere an einigen Anträgen auf Wiederaufnahme entzündete. Hinnerk Wißmann (Münster) berichtet von der Zeit zwischen 1971 und 1991, dem ein Bericht von Christian Waldhoff (Berlin) für die Zeit bis in die Gegenwart folgt. Waldhoffs Bericht ist ein ausklappbares Foto von der Bonner Tagung des Jahres 2018 beigegeben, das rund 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigt. Franz Reimer (Gießen) beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den satzungsgemäßen Aufgaben der Vereinigung und bewertet kritisch ihre Erfüllung. Helmut Schulze-Fielitz liefert eine (gekürzte) Kulturgeschichte der Vereinigung. Ewald Wiederin betrachtet das Verhältnis der Vereinigung zu Österreich (S. 245 ff.) und Benjamin Schindler dasjenige zur Schweiz (S. 273 ff.)
Nach diesen einführenden Beiträgen, die zu einem ersten Teil zusammenfasst sind, ist Teil II. einer „Themengeschichte der Tagungen der Staatsrechtslehrervereinigung“ gewidmet, die mit einem Beitrag von Udo Di Fabio (Bonn) über „Verschränkte Funktionen: Verfassung und Staat als Gegenstand der Staatsrechtslehre“ (S. 305 ff.) beginnt. Es kann hier nicht jeder Beitrag einzeln gewürdigt werden. Am besten hat mir hier der Beitrag von Margrit Seckelmann (Hannover) gefallen, die über „Verwaltungswissenschaften und Verwaltungsrealität als Themen oder Nichtthemen“ (S. 665 ff.) berichtet. Der gut geschriebene und nicht zu umfangreiche Beitrag kreist um die bedeutende Regensburger Staatsrechtslehrertagung von 1971. Neben Methodenfragen werden hier die Anforderungen der Praxis an das Verwaltungsrecht behandelt. Der dann wieder wesentlich kleinere dritte Teil handelt über „Konflikte, retardierende Kräfte, Angrenzungen“. Jan Thiessen (Berlin) berichtet über den Umgang der Vereinigung mit ihrer NS-Vergangenheit (S. 697 ff.), Florian Meinel (Göttingen) über „Die Staatsrechtslehrervereinigung und die Studentenbewegung“ (S. 733 ff.), Oliver Lepsius (Münster) betrachtet „Interdisziplinarität auf der Staatsrechtslehrertagung“ (S. 753 ff.). Es überrascht nicht, dass das Thema der Frauen in der Staatsrechtslehrervereinigung von einer Frag, nämlich von Pascale Cancik (Osnabrück), behandelt wird (S. 795 ff.) und Jens Kersten (München) zeigt „Mitglieder der Vereinigung in der politischen und gerichtlichen Praxis“ (S. 829 ff.). Abschnitt IV. zeigt „Außenansichten auf die Staatsrechtslehrervereinigung (S. 867 ff.) und beginnt mit dem Historiker Frieder Günter (Berlin) klassifiziert die 100 Jahre der Vereinigung in drei Etappen, die er jeweils unter den Überschriften „Antiliberalismus“, „liberaler Konsens“ und „Neoliberalismus“ die Debatten der Vereinigung in Beziehung zur zeitgeschichtlichen Forschung setzt (S. 867 ff.). Michael Fromont und Aurore Gaillet (Toulouse) betrachten die Vereinigung aus französischer (S. 893 ff.) und Atsushi Takada (Osaka) aus japanischer Perspektive (S. 909 ff.).
Vergleiche mit der Zivilrechtslehrervereinigung und der Strafrechtslehrervereinigung liefern jeweils Reinhard Zimmermann (Hamburg, S. 919 ff.) und Klaus Ferdinand Gärditz (Bonn, S. 951 ff.). Christoph Möllers verlässt gar die Grenzen der Rechtswissenschaft(en), indem er „Die Staatsrechtslehrervereinigung im Spiegel anderer wissenschaftlicher Vereinigungen“ (S. 973 ff.) betrachtet. Dieser Beitrag ist deshalb besonders hervorzuheben, weil Möllers den Beitrag mit dem höchsten Maß an Selbstkritik liefert, ja vielleicht sogar den einzigen Beitrag, der die Vereinigung selbst hinterfragt. Seine kritische Bemerkung zur Ausgrenzungstendenzen gegenüber der Bremer Universität durch Satzungsänderung (S. 981) wurde auch von Schulze Fielitz zuvor erwähnt. Wichtig erscheint der Hinweis auf den Auszug der Kelsen-Schule aus der Vereinigung, den bereits Ewald Wiederin oben erwähnt hatte (S. 989). Der Beitrag hat resümierenden Charakter und verweist auf weiteren Forschungsbedarf, so etwa „der Eindruck des Verfassers, dass die Referate viel von ihrer Funktion als autoritative Referenz verloren haben“ (S. 988). Insgesamt wird die Vereinigung als veränderungsresistent aufgefasst (vgl. S. 994).
Ebenfalls resümierend ist der letzte Beitrag des Bandes von Hermann Pünder. Sein viel Erfahrungswissen enthaltendes Kapitel über den „Weg in die Zunft der Staatsrechtslehre“ (S. 995 ff.) spielt mit den Bildern und Traditionen aus der deutschen Handwerkstradition. Am Schluss stellt Pünder fest, die Zünfte hätten am Althergebrachten festgehalten, was zu ihrem Ende geführt habe. Die hieraus folgende Frage, ob die Staatsrechtslehrerzunft eine Zukunft habe, wird eindeutig positiv beantwortet. Ein sehr lesenswerter Beitrag, der u. a. auch die Frage der „Vererbbarkeit“ von Professuren behandelt (S. 1012) und zudem einige informelle Querverbindungen noch aktiver Staatsrechtslehrer aufzeigt, die vielleicht manch eine nach außen sichtbar werdende gemeinsame Tätigkeit erklären.
Der Band schließt mit einem V. Teil, der „Die Staatsrechtslehrervereinigung in Daten und Zahlen“ zeigt (S. 1033 ff.).
Alles in allem: ein Band, der viele Erkenntnisse liefert und Querverbindungen in der Literatur ermöglicht. Die Querverbindungen im Band selbst, die mit einer überschaubaren Masse an Wiederholungen verbunden ist, zeigen, wie intensiv sich allein die Herausgeber mit den Einzeltexten befasst haben. Ein schönes Geschenk für Interessierte und angesichts der überschaubar langen Einzelbeiträge ein ausgezeichnetes Kompendium der Frühstückslektüre!
Helmuth Schulze-Fielitz – Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, Mohr Siebeck, 2. Aufl. 2023, ISBN 978-3-16-161639-6
Pascale Canczic u.a. (Hrsg.) – Streitsache Staat, Mohr Siebeck 2022, ISBN 978-3-16-161710-2