Rock gegen rechts am Ostseestrand
Tocotronic live auf der „Warnemünder Woche“
Thomas Claer

Diese Vorrede muss jetzt leider sein: In der Rostocker Straßenbahn unterhalten sich letzte Woche zwei junge Damen, vermutlich Studentinnen, ausführlich über ihre Allergien und Laktoseintoleranzen. Und dann erzählt die eine auch noch, dass sie ärgerlicherweise vor kurzem ihr Armband verloren habe. Das hätte sie sich mal gemeinsam mit ihrer Freundin gekauft, mit der Aufschrift „Gegen rechts“. Immer wenn sie ihre Freundin in der kleinen Stadt, in der sie wohnt, besucht habe, dann hätten sie sich beide sehr gefürchtet, wegen ihrer Armbänder eine Faust ins Gesicht zu bekommen. Aber wenigstens müsse sie nun, da sie das Armband verloren habe, davor keine Angst mehr haben… Es sind also offensichtlich nicht nur Zuschreibungen von westdeutscher Seite: Im kleinstädtischen und ländlichen Raum herrscht in weiten Teilen Ostdeutschlands ein Klima der Intoleranz und Einschüchterung gegenüber Andersdenkenden, und es besteht dort mittlerweile eine massive kulturelle Dominanz des militanten Rechtsextremismus.
Umso erfreulicher und ermutigender ist es, dass es natürlich auch das andere Gesicht des Ostens gibt, das sich etwa am vergangenen Donnerstag während der „Warnemünder Woche“ vor romantischer abendlicher Sonnenuntergangskulisse am Ostseestrand gezeigt hat. Die zu zwei Dritteln in Ehren ergrauten Berufsjugendlichen der Ex-Hamburger-Schule-Band Tocotronic ließen es bei freiem Eintritt so richtig krachen und versorgten ihre zahlreich erschienenen Fans neben zahlreichen Hits aus 30 Jahren Bandgeschichte auch mit einschlägigen politischen Botschaften. Songs wie „Denn sie wissen, was sie tun“ und „Aber hier leben, nein danke“ verfehlten ihre Wirkung beim lokalen Publikum nicht. Besonders enthusiastisch wurden aber selbstredend die alten Klassiker der Band wie „Digital ist besser“, „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“ oder „Let there be Rock“ gefeiert. Den berührenden Song „Ich tauche auf“ präsentierte Dir v. Lowtzow fast im Alleingang auf der Akustikgitarre. Erst nach mehreren Zugaben und über anderthalb Stunden kam der Schlusspunkt mit dem Lied „Freiburg“, der Hymne aller misanthropischen Individualisten, bei dem aus tausenden Kehlen die Verse „Ich bin alleine und ich weiß es / Und ich find‘ es sogar cool“ ertönten. Eins ist sicher: Die Neunzigerjahre werden niemals enden.
Veröffentlicht von
admin
on Juli 14th, 2025 und gespeichert unter
SCHEIBEN VOR GERICHT.
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