Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
schon im Vorschulalter bekam ich von meinem Vater zum Geburtstag einen selbstgebastelten kleinen Werkzeugkasten geschenkt. Darin waren, glaube ich, ein kleiner Hammer, eine kleine Zange, ein kleiner Schraubenzieher, eine kleine Feile, einige Nägel und Schrauben, etwas Sandpapier und eine kleine Säge. Natürlich freute ich mich über das Geschenk, aber so richtig etwas damit anfangen konnte ich nicht. Mein handwerklich sehr begabter Vater wollte mich damit wohl von klein auf ans Heimwerken heranführen. Aber der Erfolg blieb überschaubar. Ich interessierte mich als Kind für vieles, aber für solche Dinge eher nicht so. Mein Vater erfuhr überall große Anerkennung dafür, dass er als Akademiker, die doch sonst vielfach zwei linke Hände haben, so ein tüchtiger Heimwerker war. Wenn wir irgendwo zu Besuch waren, wurde mein Vater oft gebeten, irgendetwas im Haushalt zu reparieren, was er stets mit Vergnügen tat und dann anfügte, so etwas mache er doch mit links. (Weshalb meine Mutter oft scherzhaft erklärte, ihr Mann sei Linkshänder – in dem Sinne, dass er ja immer alles mit links mache.) Nur dass sein einziger Sohn so gar kein Interesse daran zeigte, das enttäuschte ihn doch sehr. Als Kind und Jugendlicher und zunächst auch noch als Erwachsener hielt ich mich konsequent fern von handwerklichen Dingen – trotz allem Zureden besonders meiner Mutter, so etwas sei doch sehr wichtig im Leben und ich solle mir nur immer gut anschauen, wie mein Vater das mache. Doch leider habe ich den handwerklichen und technischen Unverstand von meiner mütterlichen Seite geerbt und keinesfalls das Geschick von meinem Vater. Und leider fehlte mir auch vollkommen die Einsicht, mich auf diesem Felde wenigstens um die Aneignung der grundlegendsten Fertigkeiten zu bemühen. Wenn später etwas Handwerkliches bei meiner Frau und mir zu erledigen war, dann bat ich einfach immer meinen Vater darum, wenn meine Eltern bei uns zu Besuch waren.
Das ging so lange, wie meine Eltern noch am Leben waren. Danach waren meine Frau und ich auf uns allein gestellt – und mir blieben nur mein handwerkliches Unvermögen und immerhin noch die kindgerechten Werkzeuge aus dem kleinen Werkzeugkoffer aus meiner Kindheit. Doch Not macht bekanntlich erfinderisch, und immer öfter, wenn seitdem handwerkliche Dinge zu erledigen waren, wuchs ich auf unerwartete Weise über mich hinaus. Besonders die oftmals mangelnde Verfügbarkeit von Handwerkern und nicht zuletzt auch deren Kostenintensität trugen dazu bei, dass ich mir mittlerweile so manches angeeignet habe, an dem meine Eltern, wenn sie es noch erlebt hätten, ihre helle Freude gehabt hätten. Glücklicherweise ist ja inzwischen auch vieles einfacher geworden durch erstklassige Erklärvideos auf YouTube. Anfangs war es nur das Aufbauen von Ikea-Möbeln, bald aber auch schon der Umgang mit Abflussproblemen und kleineren Überschwemmungen in Küche und Bad, das Streichen von Holzfenstern und Wänden bis hin zur eigenhändigen Montage von Küchen. Ich musste dabei auch viel Lehrgeld zahlen und manche frustrierenden Rückschläge erfahren. Aber es wurde doch mit der Zeit immer besser, und immer mehr traute ich mir selbst zu. Doch während Hammer, Zange und Schraubenzieher häufig zum EInsatz kamen, blieb ein Werkzeug aus dem Werkzeugkasten aus meiner Kindheit jahrzehntelang unbenutzt: die kleine Säge. Was sollte man denn damit auch sägen? Es kommt ja nicht so viel infrage. Aber eines Tages ist es dann doch noch passiert: Im Eingang unseres Kellerverschlags, wo u.a. unser aufblasbares Kajak abgestellt ist, mit dem wir im Sommer manchmal über die Spree schippern, gab es ein vorstehendes Brett mit scharfen Kanten. Das hatte mich schon lange gestört, denn es war eine ständige Bedrohung für unser empfindliches Schlauchboot. Das vorstehende Brett musste also weg – und da fiel mir meine alte kleine Säge ein. Nun endlich, nach fast einem halben Jahrhundert, kam sie erstmalig zum Einsatz – und bestand diesen Test mit Bravour. Es ließ sich zwar wirklich nicht besonders gut mit ihr hantieren, aber es genügte, um das vorstehende Brett mit der gefährlichen scharfen Kante vollständig abzusägen – und unserem Schlauchboot droht nun keine Gefahr mehr. Ach, wenn das mein Vater noch erlebt hätte, wie sein Sohn mit seinen zwei linken Händen mit dieser Herausforderung fertig geworden ist!
Aber das Beste ist: Vor einigen Wochen kam die kleine Säge sogar noch ein zweites Mal zum Einsatz. Als in unserer vermieteten Wohnung in Neukölln der neue Herd geliefert wurde, legten die beiden Männer Holzbretter unter diesen, um ihn waagerecht auszurichten und zu stabilisieren. Kaum waren die Lieferanten wieder weg, da bemerkte ich, dass das eine der Bretter sehr unschön unter dem Herd hervorragte und sich auch nicht weiter nach hinten schieben ließ. Sofort fiel mir wieder meine kleine Säge ein, und beim nächsten Besuch in der Wohnung brachte ich sie mit. Tatsächlich gelang es mir, wenn auch nur unter großen Mühen, das vorstehende Brett halbwegs ordentlich abzusägen. So hat sich die kleine Säge, die so lange Jahre nur herumgelegen hatte, für mich am Ende doch noch als überaus nützliches Werkzeug erwiesen.
Dein Johannes