Recht historisch: So war Schule in der DDR
Thomas Claer
Wenn ich auf meine Schulzeit in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren in der DDR zurückblicke, dann denke ich oft an meine beiden Klassenlehrerinnen in Wismar, die mein kindliches Ich beide tief beeindruckt haben – wenn auch auf jeweils unterschiedliche, ja sogar ziemlich entgegengesetzte Weise.
Die erste Klassenlehrerin, Frau K., war vier Jahre lang, von der ersten bis zur vierten Klasse, also von Herbst 1978 bis Sommer 1982, für uns verantwortlich, was natürlich im Leben von so jungen Menschen, wie wir es damals waren, eine beinahe endlos lange Zeit gewesen ist. Frau K. war überaus streng in jeder Hinsicht. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einem so strengen und autoritären Menschen begegnet zu sein. Selbst meine Mutter, die auch überall als Respektsperson galt, war nicht annähernd so streng wie sie. Frau K. stand aber auch voll und ganz (im Gegensatz zu meinen Eltern) für politische Linientreue. Dabei lag ihr, anders als manchen ihrer Kolleginnen und Kollegen, deutlich weniger die jubelnde Begeisterung über die angeblich großen Errungenschaften des Sozialismus als vielmehr die unbedingte Wachsamkeit gegenüber dem imaginierten Klassenfeind. Mit welchem Abscheu sie die Worte USA und BRD oder gar NATO aussprach, wenn sie im Deutschunterricht die aktuellen politischen Ereignisse mit uns diskutierte! Stets forderte sie uns auf, Stellung zu beziehen zu irgendwelchen Begebenheiten. Wenn unsere Klassenstreberinnen ihr dann in ihrem Hass auf die „Lügen des Imperialismus“ beipflichteten, zeigte sie deutlich ihre Genugtuung. Wenn aber, was häufiger vorkam, sich niemand meldete, weil wir kleinen Knirpse und Knirpsinnen oft auch einfach nicht wussten, was wir sagen sollten, sah sie uns finster und durchdringend an und sagte dann halblaut, wobei sie ein Auge halb zukniff: „Keine Meinung ist auch eine Meinung.“ Bei Frau K. musste man immer ein schlechtes Gewissen haben. Oft dachte ich mir irritiert: „Bin ich jetzt ein Klassenfeind? Ein Gegner des Sozialismus? Nur weil ich nichts gesagt habe?“
Man muss Frau K. zugute halten, dass sie ganz offensichtlich felsenfest an all das glaubte, was sie uns erzählte. Die leicht augenzwinkernde Dienst-nach-Vorschrift-Haltung manch anderer Lehrer, bei denen man sich nie so ganz sicher war, was sie wirklich dachten, ging ihr vollkommen ab. Sie war das, was man damals eine „Überzeugte“, eine „Hundertprozentige“ nannte. Die gab es zwar, aber es war eine überschaubare Minderheit. Die Mehrzahl auch und gerade unter den Parteigenossen war eher pragmatisch eingestellt. Später als Jugendlicher, als ich mit wachsendem politischen Bewusstsein immer genauer hinzuhören begann, wer wann und wo was sagte, bemerkte ich, dass die DDR-kritischsten Äußerungen sogar oftmals von Parteimitgliedern kamen, allerdings nur im privaten Umfeld.
Unvergesslich ist mir geblieben, wie einer meiner Mitschüler offenbar denunziert worden war, weil er gesagt haben sollte, unsere Horterzieherin, Frau R., sei ja wohl „ein Albtraum“. Unsere Klassenlehrerin Frau K. fragte in der Deutschstunde unvermittelt, ob jemand von uns wisse, was ein Albtraum sei. Als sich niemand meldete, nahm sie den Denunzierten aufs Korn, trat dicht an ihn heran, nannte ihn beim Namen und forderte ihn auf zu erklären, was ein Albtraum sei. Als er vorgab, es nicht zu wissen, erklärte Frau K. der Klasse, dass ein Albtraum „etwas ganz Schlimmes“ sei. Und noch schlimmer sei es, einen Menschen als Albtraum zu bezeichnen, was aber, ha!, unser Mitschüler getan habe – und das auch noch in Bezug auf unsere Horterzieherin. Wie wir anderen das denn finden würden?! Sofort gingen die Finger hoch: „Frau R. ist immer lieb und nett zu uns“ (was nun wirklich nicht stimmte, denn sie war mit Grund äußerst unbeliebt), und niemand dürfe sie deshalb so bezeichnen. Das reichte Frau K. aber noch nicht. Sie wollte immer noch mehr Verurteilungen unseres Mitschülers von uns hören. Ein Schlauberger äußerte sich daraufhin gewitzt und diplomatisch: „Angenommen, nur mal angenommen, dass Frau R. wirklich ein Albtraum wäre, so dürfte man das doch nicht sagen, denn das sei unverschämt.“ Ich sagte nichts dazu, wie eigentlich fast immer in solchen Situationen, obwohl ich sonst durchaus gesprächig gewesen bin. Und am Ende kam dann wieder von Frau K. ihr drohendes „Keine Meinung ist auch eine Meinung.“
Mich hatte sie sowieso immer auf dem Kieker. Dass ich als recht guter Schüler mich hartnäckig weigerte, in den Gruppenrat und später Jungpionierrat einzutreten, musste ihr natürlich sehr verdächtig vorkommen. Womöglich war ich ja vom Elternhaus irgendwie staatsfeindlich beeinflusst. Das war aber gar nicht der Fall, denn dazu waren meine Eltern viel zu vorsichtig. Ich hatte nur einfach keine Lust dazu, weil mir das ganze politische Zeug irgendwie sehr unsympathisch war. Und immerhin drängten mich meine Eltern auch nicht, in den Jungpionierrat zu gehen, was ich ihnen aus heutiger Sicht hoch anrechne. Denn damals hatten sie bestimmt noch keine Ausreisepläne in den Westen. Und wer in diesem Staat Karriere machen wollte, der tat gut daran, von klein auf, solche Ämter zu bekleiden. Aber ich wollte einfach nicht. Da musste dann später schon eine andere Lehrerin kommen mit gänzlich anderen Methoden…
(Wird fortgesetzt.)