Wider die Ostdeutschtümelei: „Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Thomas Claer
Ein weiteres Buch aus kundiger Feder über den ostdeutschen Schlamassel ist „Freiheitsschock“ vom Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Zwar gibt es darin thematisch und ebenso in der Analyse der Problematik eine Menge Überschneidungen mit den beiden jüngst an dieser Stelle besprochenen Werken des Soziologen Steffen Mau („Ungleich vereint“ und „Lütten Klein“). Dennoch hat Kowalczuk ein gänzlich anderes Buch geschrieben als die beiden besagten von Mau, was vor allem an den vollkommen unterschiedlichen Temperamenten beider Verfasser liegt. Steffen Mau, der kühle Norddeutsche aus Rostock, ist – trotz seiner immer wieder aufblitzenden Freude an Pointierungen – gleichsam die Verkörperung von wissenschaftlicher Nüchternheit und Sachlichkeit, ausgefeilt in den Formulierungen und stets abgewogen im Urteil. Demgegenüber ist Ilko-Sascha Kowalczuk, der aus einer Familie ukrainischer Einwanderer in Ost-Berlin stammt, eher auf Krawall gebürstet.
Wie vermutlich niemand sonst hierzulande (zumindest nicht innerhalb der akademischen und intellektuellen Debatten) attackiert Kowalczuk seine ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger, was sich Westdeutsche nur hinter vorgehaltener Hand und andere Ostdeutsche wohl niemals trauen würden, um nicht als Nestbeschmutzer dazustehen. So bescheinigt Kowalczuk den Bewohnern Ostdeutschlands, in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht demokratiefähig zu sein, da die Älteren unter ihnen es gar nicht und die Jüngeren es nur falsch und verzerrt von ihren Eltern
erlernt hätten, wie eine Demokratie funktioniert. Die Notwendigkeit des mühsamen Aushandelns politicher Kompromisse verstünden sie nicht und beklagten sich stattdessen nur darüber, dass ihre persönliche Meinung von der Politik nicht gehört würde. Auch machten die Ostdeutschen, sobald etwas in ihrem Leben nicht nach ihren Vorsttellungen ablaufe, dafür regelmäßig den Staat verantwortlich. Auf den Gedanken, dass auch jede und jeder selbst für sich Verantwortung tragen sollte, kämen sie sicht, was das Resultat der jahrzehntelangen Kollektiv-Propaganda in der DDR und deren Nachwirkungen sei. Das überwiegend demokratische Wahlverhalten der Ostdeutschen in den vergangenen Jahrzehnten sei nur ein von Missverständnisen hervorgerufenes Oberflächenphänomen gewesen, wohingegen es keinesfalls überraschend sei, dass sich mittlerweile zwei Drittel der Ostdeutschen vorstellen könnten, eine autoritäre Partei zu wählen (was mehr als die Hälfte von ihnen inzwischen auch tut). Ganz falsch sei schließlich auch das immer wieder von den Westdeutschen (zumeist pflichtschuldig) vorgebrachte Lob der Ostdeutschen für deren Mut bei der friedlichen Revolution im Herbst 1989, da seinerzeit tatsächlich nur eine winzig kleine Minderheit persönliche Risiken in Kauf genommen habe, während sich die breite Masse erst als absehbar war, wer die Oberhand behalten würde, opportunistisch auf die Seite der historischen Sieger geschlagen habe.
Doch kriegen natürlich auch die Westdeutschen in ihrer Selbstgerechtigkeit ihr Fett weg, und das nicht zu knapp, insbesondere die ab 1990 neu in den Osten gezogenen Führungspersonen. Das Grundmotiv in deren späteren Erinnerungsberichten lasse sich zumeist auf den folgenden Nenner bringen: „Im Osten ist vieles anders. Die Menschen sind arbeitsam. Es war harte Arbeit zu leisten, um den Sumpf trockenzulegen. Man ist aus rein idealistischen Gründen in den Osten gegangen. Nach vielen Jahren fühlte man sich nicht nur als Wossi, sondern eigentlich als Ossi. Die Landschaft ist toll. Es gibt so viel zu entdecken. Vieles erinnerte an die fünfziger und sechziger Jahre. Die Ostler sind undankbar. Wir haben so viel Geld in den Osten gepumpt und die meckern nur. Der Osten ist mir zur Heimat geworden. Die Probleme wachsen sich aus. Die Hoffnung ist die Jugend. Die Jugend geht weg. Ich bereue es nicht, in den Osten gegangen zu sein. Im Westen hätte ich leichter Karriere machen können. Es geht nur um Leisung. Die Herkunft ist doch vollkommen egal.“ (S. 118).
Überhaupt schießt Kowalczuk eigentlich unaufhörlich in alle Richtungen, dabei manchmal über das Ziel hinaus und mitunter sich selbst ins eigene Knie. Doch immer wieder trifft er dabei auch mitten ins Schwarze. Sehr verdienstvoll ist zweifellos seine Auseinandersetzung mit den Schriften von Sahra Wagenknecht und Alice Weidel, anhand derer er aufzeigt, warum diese Demagoginnen und ihre Parteien am besten niemals in Regierungsverantwortung gelangen sollten. Was sich aber signifikant von Steffen Maus Büchern unterscheidet, ist Kowalczuks bedrohlich pessimistischer Zukunftsausblick. Während Mau aufgrund seiner soziologischen Untersuchungen zur Prognose kommt, dass die AfD in den nächsten zehn Jahren sehr wahrscheinlich nicht über 30 Prozent bei Wahlen auf Bundesebene erzielen wird, da sie zumindest im Westen ihr Potenzial bereits heute beinahe vollständig ausgereizt habe, kommt Kowalczuk aufgrund seiner historischen Studien zur These, dass Ostdeutschland wegen seiner Besonderheiten eine Art Laboratorium der Globalisierung darstelle und deshalb vielfach Entwicklungen antizipiere, die mit etwas Verzögerung später auch im Westen erfolgten. Mit diesem höchst beunruhigenden und alarmierenden Ausblick entlässt er sodann seine Leser, nicht ohne aber abschließend noch ein feuriges und durchaus pathetisches Plädoyer für die Freiheit zu halten, die ihm selbst so unendlich viel, seinen Mitbürgern in Ost (sowieso) und West (neuerdings) aber leider gar nicht (mehr) so viel bedeute.
„Freiheitsschock“ ist somit insbesondere ein engagiertes Buch, eine Mischung aus Analyse, Autobiographie, Weckruf und Pamphlet, mit großem Unterhaltungswert und hohem Grusel-Faktor.
Ilko-Sascha Kowalczuk
Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute
Verlag C.H. Beck, 2024
240 Seiten: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-406-82213-1