Goethe als Chinese und Homunculus als KI

Manfred Osten und Helwig Schmidt-Glintzer diskutieren bei Matthes & Seitz in Berlin

Thomas Claer

Manfred Osten (li.) und Helwig Schmidt-Glintzer. Foto: Han

Schon frühzeitig hat Manfred Osten, promovierter Jurist, Ex-Diplomat und versierter Goethe- und Asienkenner, auf die bestürzende Aktualität Goethes im Lichte der gesellschaftlichen und insbesondere auch technischen Entwicklungen unserer Gegenwart hingewiesen. Als mittlerweile 87-Jähriger hat Osten nun ein Alter erreicht, in dem er die Realisierung dessen, was Johann Wolfgang von Goethe auf künftige Generationen zukommen sah (dargelegt vor allem im vorsorglich „versiegelten“ Faust II), zu großen Teilen noch gewissermaßen in Echtzeit miterleben kann.

Vor knapp zwei Dutzend Interessenten in den Berliner Verlagsräumen von Matthes & Seitz ging es in der von Andreas Rötzer moderierten Diskusion zwischen Osten und dem Sinologen Helwig Schmidt-Glintzer aber zuvörderst darum, wie Europa sich im Sinne Goethes am Vorbild Chinas im Wege einer stärkeren Bildungsorientierung und „Vertikalspannung“ für jeden Einzelnen ausrichten sollte. 1827 hatte Goethe, selbst Konfuzius-Leser seit frühester Jugend, in seinem China-Bekenntnis eine grundlegende Erneuerung durch eine Art Ex-Oriente-Therapie gefordert – und zwar durch „strenge Mäßigung“ im Sinne eines konsequent leistungs- und bildungsfokussierten Lebens. Die große 45-bändige chinesische Gesamtausgabe der Werke Goethes, die nun geplant ist, ehrt Goethe heute indirekt als den Vordenker der von Deng Xiao Ping eingeleiteten Bildungsrevolution im Geiste dieser Vertikalspannung. Mit dem Ergebnis, dass China in den zurückliegenden 40 Jahren erfolgreich den Weg beschritten hat, auf den Europa nun in Form einer „neuen Aufklärung“ antworten sollte, so die Diskutanten, um seiner eigenen „Verzwergung“ zu entkommen.

Besonders betonte Osten die Rolle des frühkindlichen Erlernens der chinesischen Schriftzeichen für die Entwicklung des menschlichen Gehirns. Die umfassende Vernetzung der Synapsen bei Formung des bildhaften Denken – das sei so nur durch intensives Lernen schon im frühesten Kindesalter möglich. Dementsprechend würde heute in China kaum ein Kind, das nicht bereits mehrere tausend Schriftzeichen beherrsche, auch nur die Aufnahmeprüfung für den Kindergarten bestehen. In europäischen Ländern hingegen blieben solche Möglichkeiten zur Nutzung humaner Ressourcen für die gegenwärtige und künftige Wissensgesellschaft leider weitgehend ungenutzt, da sich die Zeitfenster der besonders prägungsaktiven Phasen in der frühen Kindheit eben auch wieder schlössen. Die europäischen Aufklärer, so Osten, hätten im übrigen die besondere Bedeutung von Fleiß und Lerneifer schon deutlich vor Augen gehabt. So habe Immanuel Kant in seinem Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ als maßgeblichen Hinderungsgrund für eine aufgeklärte Weltsicht neben Feigheit vor allem auch Faulheit ausgemacht. Und bereits hundert Jahre zuvor habe Gottfried Wilhelm Leibniz, der im engen Austausch mit Jesuiten in China stand, die Einrichtung einer Meritokratie nach chinesischem Vorbild anstelle des seinerzeit in Europa bestehenden Erbadels gefordert.

Helwig Schmidt-Glintzer, der gerade wieder aus China zurückgekehrt war, wo er eine Tagung zum Thema „AI and Humanities“ besucht hatte, wies ferner auf die im Westen vollkommen unterschätzte Konkurrenz zwischen den einzelnen chinesischen Universitäten sowie die enorme und gezielte Förderung nicht nur der MINT-Fächer in China hin. Darüber hinaus stellte er den Einfluss des Buddhismus heraus, dessen „mittlerer Weg“ sich laut Osten erheblich mit den Lehren des Konfuzius überschneide, was bereits Goethe sehr bewusst gewesen sei.

Besonders interessant wurde es noch einmal am Ende, als aus dem Publikum Fragen u.a. zu Goethes Antizipationen heutiger technologischer Entwicklungen in seinen Werken gestellt wurden, einem Spezialgebiet von Manfred Osten. Nicht nur das Internet, so Osten, habe Goethe im Faust II präzise beschrieben:

„Verworren läuft der Welt Lauf wie ein Traum;
Ein neues Netz wird täglich angeknüpft,
Ein Maschenwerk wird flüchtig überworfen,
Der Knoten hält, der Faden läuft davon.“

Auch von KI und Robotik habe Goethe schon eine hinreichende Vorstellung gehabt, wie die Figur des Homunculus beweise:

„Ich seh’ in zierlicher Gestalt
Ein artig Männlein sich gebärden.
Was wollen wir, was will die Welt nun mehr?
Denn das Geheimnis liegt am Tage.
Gebt diesem Laute nur Gehör,
Er Wird zur Stimme, Wird zur Sprache.“

Laut Osten habe Goethe insbesondere im Faust II gezeigt, dass die Menschheit im Begriff sei, etwas zu erschaffen, was sie letztendlich nicht mehr unter Kontrolle halten könne.

So bleibt nur zu hoffen, dass Manfred Osten nach seinen diversen Publikationen tatsächlich noch ein weiteres Buch über „Goethe als Chinesen“ herausbringen wird. Und dann in einigen Jahren, inschallah, womöglich sogar noch eins über „Goethe und die KI“ auf dem dann aktuellen Stand der weiteren technologischen Entwicklung. „Was fruchtbar ist, allein ist wahr.“

Veröffentlicht von on Juni 23rd, 2025 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

Hinterlassen Sie einen Kommentar!