Homo Thomas

Tilmann Lahme erkennt die Sexualfrage als Schlüsel im Werk Thomas Manns

Matthias Wiemers

Schon eine Reihe von Biographien sind über Thomas Mann erschienen, dessen Geburt sich in diesem Jahr zum 150. Mal jährt.
Der Literaturhistoriker Tilmann Lahme, bereits mit einem Bestseller über „Die Manns“ sowie auch mit einer Biographie des Sohnes Golo hervorgetreten, hat nun auch zu Thomas Mann eine ‚Lebensbeschreibung“ vorgelegt. War Lahme mit den vorgenannten Titeln noch bei Manns Verlag S. Fischer geblieben, so ist es nun dtv, der bekanntlich nicht nur Taschenbücher herausbringt. Der Schritt des Verlagswechsels erscheint angemessen, wenn man bedenkt, dass dieser neue Lebensbericht wirklich Neues bietet. Neue Quellenauswertungen und neue Deutungen.
Die Leser Thomas Manns, die sich auch nur am Rande mit der Biographie des Autors beschäftigt haben, wussten oder ahnten schon immer, dass da etwa war, das den Bereich des seinerzeit „Normalen“ verließ – ohne weiteres ableitbar aus „Der Tod in Vernedig“ (bekanntlich prominent verfilmt mit Dirk Bogarde als Thomas Manns alter ego) und „Tonio Kröger“.
Tilmann Lahme nun behandelt das Thema der Homosexualität Manns nun nicht etwa im Rahmen eines gesonderten Kapitels, sondern er beginnt damit und behandelt es durchgehend über die gesamte Lebensspanne. Schon im im Jahre 1903 einsetzenden „Vorspiel“, wo zu Beginn des Jahres der Novellemband „Tristan“ von Thomas Mann erschien, worin „Tonio Kröger“ enthalten ist, zeigt Lahme verschiedene Beispiele, worin der Autor seine Zuneigung zu männlichen Zeitgenossen literarisch verarbeitet und wie dies von ihm verdeckt wird. Bereits dort wird ein seinerzeit sehr bekanntes psychiatrisches Werk präsentiert, das später noch durch ein anderes ergänzt wird. Beide Bücher wurden offenbar von Thomas Mann und seinem Schulfreund Otto Grautoff intensiv gelesen und untereinander besprochen. Beide verspüren offenbar gleichgeschlechtliche Neigungen – wenn auch nicht füreinander, und Grautoff begibt sich explizit in die Behandlung in der Berliner Praxis von Albert Moll, der eines der beiden Bücher geschrieben hat. Beide Freunde heiraten, und bei Grautoff wissen wir nicht, ob er sich – wie man es damals nannte – als von seiner Homosexualität „geheilt“ fühlte (Sein autobiographischer Nachlass, so erfahren wir von Lahme, liegt ungedruckt in der Bibliothek der Pariser Sorbonne, S. 382 ff.). Thomas Mann jedenfalls – so lernen wir über den Gesamtverlauf der Geschichte – muss zeitlebens seine Neigung unterdrücken. Ausgelebt hat er sie wohl nie. Soweit, so gut. Was der Leser der Biographie auch lernt, ist, dass es Thomas Mann zwar immer wieder unternimmt, in seiner Literatur entsprechende Andeutungen zu machen bzw. Protagonisten in heterosexuellen Beziehungen scheitern zu sehen, er aber weder selbst zu einem Outing kommt, noch seine Biographen und Herausgeber von Briefen bereit sind, sich das Faktum der Homosexualität des Autors einzugestehen. Zwei frühe Briefe Manns an Otto Grautoff wurden von früheren Biographen teilweise bewusst nicht verwendet und belegen die Bedeutung der Geschlechterfrage und die Vertrautheit der beiden Jugendfreunde in der Auseinandersetzung über dieses Thema für die beiden Jungen je für sich selbst (vgl. insbes. S. 493 ff.).
Interessant ist auch die im Schlusskapitel geschilderte Begegnung der jungen Susan Sontag – bekanntlich bisexuell –, die Thomas Mann in seinem Haus in Pacific Palisades (Los Angeles) besucht und diesen Besuch später literarisch verarbeitet. Sontag übergibt Thomas Mann ihre eigene Interpretation des Zauberberg-Romans. Ob sie, die ebenfalle bereits frühzeitig mit ihrer sexuellen Orientierung kämpft, selbst diesem Roman eine sexuelle Deutung beilegt, erfahren wir nicht. Von Tilmann Lahme lernen wir aber jedenfalls, dass der von Mann im Zauberberg negativ gezeichnete Arzt Edhin Krokowski einem der beiden Nervenärzte und Psychiatern, die je ein Buch geschrieben haben, nämlich Richard Krafft-Ebing (S. 308 ff.), nachgebildet sein muss. Er verspottet den Arzt, der da freilich schon über 20 Jahre tot ist. In den Buddenbrooks, so wird deutlich, kann der kleine Hanno, mit dem die Dynastie schließlich endet, als alter ego des Autors gesehen werden, da Hannos Jugendfreund Kai Graf Mölln wohl für Otto Grautoff steht (S. 175 ff., vgl. auch S. 384).
Der wunderbar geschriebene Band gibt uns einen Einblick in die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts – auf eine ganz besondere Weise. Er ist uneingeschränkt zu empfehlen.

Tilmann Lahme
Thomas Mann. Ein Leben
dtv, 2025
592 Seiten; 28,00 Euro
ISBN: 9783423284455

Veröffentlicht von on Juli 14th, 2025 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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