Nachhaltigkeit kann staatlich gesteuert werden

Das „Handbuch Nachhaltigkeit im Vergaberecht“ zeigt uns, wie es geht

Matthias Wiemers

Am Vergaberecht scheiden sich die Geister. Die einen verweisen auf seine klassische Funktion, die öffentliche Hand in ihren vielfältigen Erscheinungsweisen vor Verschwendung zu bewahren, die anderen sehen gerade in der gewaltigen Nachfragemacht des Staates die Möglichkeit, mittels öffentlicher Beschaffungsvorgänge zugleich politische Ziele verfolgen zu können (Dass letzteres keineswegs neu ist, wurde dem Rezensenten verdeutlicht, als er vor Jahren ein wirtschaftshistorisches Buch las und feststellte, dass etwa im „Dritten Reich“ eine Spende ans NS-Winterhilfswerk Wunder bei der Vergabe öffentlicher Aufträge wirken konnte. Dies freilich wäre nicht „vergabefremd“, sondern sachwidrig zu nennen.).

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass ausgerechnet die Industrie- und Handelskammern, die doch als Körperschaften des Öffentlichen Rechts dem Gemeinwohl besonders verpflichtet sind, sich seit je kritisch gegenüber früher so genannten vergabefremden Kriterien äußern.
Kritisch mag man nur anmerken, dass potentielle Bieter mit der Einhaltung solcher Kriterien auch überfordert werden können und zudem eine Mehrzahl solcher nicht allein am Preis orientierter Kriterien die Komplexität der Vergabeentscheidungen dermaßen erhöhen können, dass sie vom menschlichen Verstand nicht mehr erfasst werden können. Doch hierfür gibt es Lösungen.
Dass trotz aller Kritik die Steuerung gesellschaftlicher Transformation mittels öffentlicher Auftragsvergaben längst etabliert ist, zeigt das im vergangenen Jahre bereits erschienenes „Handbuch Nachhaltigkeit im Vergaberecht“, das von den Frankfurter Rechtsanwälten Irene Lausen und Jan Peter Müller herausgegeben wird.
Dass die Bezeichnung „vergabefremde Ziele“ oder „vergabefremde Zwecke“ eigentlich einer bis 2014 – bis zur Reform der sog. Vergabekoordinierungsrichtlinie – andauernden Epoche angehören, zeigt bereits der erste Abschnitt des ersten Kapitels (Grundlagen“) von Dr. Malin Nischwitz und Professor Martin Burgi über „Begriff, Verfassungsrahmen und Dimensionen der Nachhaltigkeit“ (§ 1, Rdnr. 28). Denn seither gilt offenbar das „Vorbild Staat“ (Rdnr. 29).
Der Schweizer Richter Marc Steiner entfaltet im zweiten Abschnitt „Internationale Rechtsgrundlagen – Welthandelsorganisation GPA Beschaffungsübereinkommen“ (§ 2), bevor Mitherausgeberin Lausen „Europäische Rechtsgrundlagen“ präsentiert (§ 3).
Und in der Tat hat sich namentlich im europäischen Recht allmählich ein Bewusstsein für die Zulässigkeit und Notwendigkeit der seinerzeit sehr umstrittenen „vergabefremden Aspekten“ entwickelt, wie sich schon anhand der von Lauser nachgewiesenen EuGH-Rechtsprechung erkennen lässt (Rdnr. 1 ff.). Die Autorin schildert, wie nach früheren Erkenntnissen des EuGH der EU-Gesetzgeber unter dem Eindruck dieser Rechtsprechung allmählich entsprechende Regelungen erlassen hat, die seit den Vergaberichtlinien von 2004 der Rechtsprechung in der Gesetzgebung gefolgt sind. Lausen zeigt dann im Anschluss „Allgemeingültige Bundesregelungen“ (§ 4), der sie „Regelungen der Bundesverwaltung“ (§ 5) folgen lässt. Mitherausgeber Müller präsentiert sodann die „Regelungen der Bundesländer“ (§ 6).
Rechtsanwalt Dr. Kai-Uwe Schneevogl zeigt „Strategische Grundsätze des Vergaberechts“ (§ 7) und Professor Michael Kling schildert zum Abschluss des ersten Kapitels „Die besondere Bedeutung von Mindestlohn und Tariftreue“ (§ 8).
Schneevogl verdeutlicht in seinem Beitrag, welche Bedeutung strategischen Beschaffungszielen nach § 97 Abs. 3 GWB zukommt, nämlich keine Verpflichtung, aber die Möglichkeit hierzu, und zwar im Oberschwellenbereich (§ 7, Rdnr. 30 f.). Warum in diesem Zusammenhang die Privatautonomie als Quelle des Leistungsbestimmungsrechts öffentlicher Auftraggeber bemüht wird, erschließt sich freilich nicht (§ 7, Rdnr. 32). Öffentliche Auftraggeber können sich keinesfalls auf die Privatautonomie berufen – hiergegen steht schon das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip. Wichtig bleibt aber, dass andere vergaberechtliche Prinzipien damit nicht ausgehebelt werden können (vgl. Rdnr. 36 ff. und die Übersicht bei Rdnr. 4).
Mitherausgeberin Lausen leitet das zweite Kapitel ein, das der „Vorbereitung des Vergabeverfahrens“ gewidmet ist, indem sie zunächst „Vorbereitung, interne Rahmenbedingungen und Markterkundung“ darlegt (§ 9).
Achmed Demir vom Bundesrechnungshof zeigt, wie das Prinzip der „Wirtschaftlichkeit“ (§ 10) Demir stellt in seinem Beitrag u. a. klar, dass „der eigentliche Schlüssel zu einem nachhaltigen Verwaltungshandeln“ das Leitprinzip der Nachhaltigkeit sei, das man der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung entnehmen könne. (Rdnr. 30 ff.). Dem mag man zwar entgegenhalten, dass sich diese Nachhaltigkeitsstrategie häufig im Klein-Klein verliert und zudem die Bundesregierungen gelegentlich wechseln. Die Strategie enthält aber gleichwohl zahlreiche Anregungen, um verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen – und das vorliegende Handbuch kann helfen, hierbei dennoch keine rechtlichen Fehler zu machen.
Rechtsanwalt Norbert Portz wirft einen kommunalen Blick auf die Frage, wie nachhaltige Beschaffungen in Verwaltung und Politik umgesetzt werden können (§ 11).
Rechtsanwalt Christian Miercke zeigt, dass es auch strategische Erwägungen im Hinblick auf Nachhaltigkeitsziele geben kann, die bei der Wahl des passenden Vergabeverfahrens eine Rolle spielen (§ 12). Speziell mit den Zielen „Inklusion und Integration“ setzen sich Johanna Ott und Jan-Peter Müller auseinander (§ 13), und zwar mit der Spezialregelung in $ 118 GWB.
Das sodann beginnende Kapitel 3 ist der „Gestaltung der Vergabeunterlagen“ gewidmet, wozu sich Rechtsanwalt Henning Feldmann mit dem vom EuGH entwickelten allgemeinen Grundsatz der Verbindung mit dem Auftragsgegenstand auseinandersetzt (§ 14) , Rechtsanwalt Mark von Wietersheim ergänzt dies um den allgemeinen Grundsatz des Lebenszyklusansatzes (§ 15) und Jan Peter Müller mit dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 16). Von Wietersheim kehrt zurück mit einem Beitrag über die „Leistungsbeschreibung“. Die Rechtsanwälte Oliver Hattig und Katja Gnittke stellen mögliche „Eignungskriterien und Ausschlussgründe (einschließlich Umweltmanagement)“ dar (§ 18). Professor Jens Gerlach und Rechtsanwalt Simon Manzke stellen die im „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ speziell geregelten Ausschlussgründe dar (§ 19), und Mitherausgeber Müller zeigt die Möglichkeiten von „Zuschlagskriterien und Wertungsformeln“ auf (§ 20).
Alexander Hofmann und Marieke Tiede von der Hochtief PPP Solutions GmbH, unterstützt von Müller zeigen auf, inwieweit Klimaschutzaspekte – gerade unter den Vorgaben der jüngsten Rechtsentwicklungen seit der BVerfG-Entscheidung vom 24. März 2021 – in Vergabeentscheidungen aufgenommen werden können (§ 21).
Die nach dem GWB möglichen „Ausführungsbedingungen“ sind Gegenstand eines Beitrags des Rechtsanwalts Pascal Friton und des GIZ-Beraters Janis Zöll (§ 22).
Ein Dauerthema im „Schilderwald der Umweltzeichen“ sind „Nachweise und Gütezeichen“ (§ 23), mit denen sich Regierungsdirektorin Ilse Beneke und Oberregierungsrätin Daria Eletskaya abschließend im dritten Kapitel befassen (§ 23).
Im vierten Kapitel werden sodann „Praxisrelevante Beschaffungsregime“ dargestellt, mithin solche Bereiche, in denen sich in der Praxis bereits eie Nutzung von Nachhaltigkeitsaspekten bei der Bieterauswahl etablieren konnte.
Dies sind:
• „Energieverbrauchsrelevante Gegenstände“ (§ 24, RA Christoph Zinger),
• „Saubere Fahrzeuge“ (§ 25, Zinger),
• „Nachhaltigkeit und Bau“ (§ 26, RA Dr. Oliver Jauch),
• „Nachhaltigkeit und Informationstechnik“ RAin Dr. Annette Rosenkötter),
• „Grünstrom“ (§ 28 Dr. Jauch),
• „Lebensmittel und Verpflegung“ (§ 29, Hattig/Gnittke),
• „Holzprodukte, Büromaterial und Büroausstattung“ (§ 30, RA Dr. Alexander Pustal),
• „Kreislaufwirtschaft“ (§ 31, Dr. Pustal) sowie
• „Reinigungsmittel und Dienstleistungen“ (§ 32, Dr. Pustal).

Das letzte Kapitel (5) handelt schließlich von Sonderregimen, und zwar von „Vergaben nach § 130 GWB“ (§ 33, Dr. Pustal), Vergaben nach der Sektorenverordnung, der Konzessionsvergabeverordnung sowie der Vergabeverordnung für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit (§ 34, Dr. Pustal) und Schließlich „Wegenutzungsverträge in der Energiewirtschaft (§ 46 EnWG)“ (§ 35, RA Dr. Heiko Hofmann).

Zwar haben sich bereits einige Einsatzfelder für die Nutzung von Nachhaltigkeitskriterien etabliert, aber damit diese Entwicklung weitergehen kann, braucht es nicht nur immer wieder das Hinterfragen von zum Teil auch bürokratischen Regelungen, sondern auch nützlicher Hilfsmittel für die Praxis. Zu diesen wird man das vorliegende Handbuch zweifellos zählen können. Aus den 17 „Sustainability Goals“ der UN lassen sich jeweils bereichsadäquate Kriterien für mehr Nachhaltigkeit in der Vergabe gewinnen. Geschieht dies in einer ausgewogenen Weise, kann es gelingen, die Gemeinwohlbindung der Öffentlichen Hand zu aktualisieren, weil die Bundesrepublik Deutschland die „Goals“ als Gemeinwohlziele bereits anerkannt hat. Bei diesem Prozess der bereichspezifischen Gemeinwohldefinition hilft das „Handbuch Nachhaltigkeit im Vergaberecht.

Lausen / Müller
Handbuch Nachhaltigkeit im Vergaberecht
Verlag C. H. Beck 2024
534 Seiten; 139,00 Euro
ISBN: 978-3-406-80435-9

Veröffentlicht von on Juli 21st, 2025 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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