„Senilia. Gedanken im Alter“ aus dem Nachlass des Philosophen Arthur Schopenhauer
Thomas Claer
Als Typ war der olle Schopenhauer (1788-1860) natürlich unübertroffen: führte ein Leben als Privatgelehrter, ließ sich von niemandem etwas sagen, lebte von den eigenhändig erwirtschafteten Kapitalerträgen aus seinem früh erworbenen väterlichen Erbe und beschränkte sich mit seinen Veröffentlichungen auf das Wesentliche, was er zu sagen hatte, wollte um Himmels willen kein „Vielschreiber“ sein. Daher ist es auch nicht unbedingt ihm anzulasten, wenn aus dem handschriftlichen Nachlass neben manchen Schätzen auch so allerhand redundantes Zeug zum Vorschein kommt. Dies betrifft vor allem Teile seiner hier zu besprechenden, von ihm selbst mit „Senilia“ betitelten Aufzeichnungen der letzten Lebensjahre. Im Alter verstärken sich ja bei vielen Menschen vor allem ihre weniger angenehmen Eigenschaften. Was sich aber der greise Schopenhauer in ausdauernder Pedanterie an angeblichen „Verhunzungen“ der deutschen Sprache notierte (und sich darüber in Schimpftiraden erging), sucht wahrlich seines gleichen. So sei es etwa aus sprachhistorischen Gründen völlig falsch, von „Dänemark“, „Briten“ oder der „italienischen“ Sprache zu reden, nein, es müsse zwingend „Dännemark“, „Britten“ und „italiänisch“ heißen. Das zweite Leitmotiv seiner Notizen bildet die anhaltende Klage und Wut über die jahrzehntelange Nichtbeachtung seiner Lehren, obgleich er doch andernorts die einem Philosophen weitaus angemessenere Feststellung getroffen hatte, dass die Meinung anderer Menschen über uns gemeinhin völlig überschätzt werde. Sollte ausgerechnet die freie Existenz dieses Denkers und der damit verbundene ständige Rechtfertigungsdruck dazu beigetragen haben, dass er am Ende in seinen Zeitgenossen, vor allem den Rezensenten und Universitätsprofessoren, die er verächtlich „Brodschreiber“ und „Brodphilosophen“ nannte, nur noch Schwachköpfe erblickte, die sich allesamt gegen ihn verschworen hatten? Mitunter gerät der Verfasser in den „Senilia“ so in Rage, dass man ihn sich als eine Art Gernot Hassknecht aus der heute-Show vorzustellen geneigt ist. Dabei hatte Schopenhauer durchaus Humor und war mitunter sogar fähig zur Selbstironie, weshalb ihn der ebenfalls zu köstlichen Schimpftiraden und Wiederholungen neigende Schriftsteller Thomas Bernhard (1931-1989) einst als Spaß-Philosophen bezeichnete, was für Bernhard das höchste vorstellbare Lob war (während Schopenhauer selbst mit diesem Begriff seine verhassten Kollegen Hegel und Schelling abgekanzelt hatte). So sieht Schopenhauer es als Folge der „erbärmlichen Subjektivität der Menschen“ an, dass sie „Alles auf sich beziehen und von jedem Gedanken sogleich in gerader Linie auf sich zurückgehen“. Geht man aber über seine kollektiven Verächtlichmachungen auch „des Pöbels“ („Wer kein Latein versteht, gehört zum Volke…“), „der Weiber“ („Das Wort ist ganz unschuldig…Wenn ihm eine unangenehme Bedeutung anklebte; so könnte dies nur am Bezeichneten liegen.“) und sogar „der Juden“ („Mein auserwähltes Volk sind sie nicht.“) hinweg, kann man in diesem Buch noch eine Menge Bedenkenswertes und inhaltlich wie sprachlich Brillantes entdecken: „Die Werke sind die Quinteßenz eines Geistes. Sie werden daher … stets ungleich gehaltreicher sein, als sein Umgang.“ Das glauben wir gerne, besonders ihm. Und noch ein Nachtrag zur „Welt als Wille und Vorstellung“: „So gut wie im Traum in allen uns erscheinenden Personen wir selbst stecken, so gut ist es im Wachen der Fall, wenn auch nicht so leicht einzusehen. Aber tat-twam asi.“ Vielleicht war Arthur Schopenhauer ja der intoleranteste Buddhist aller Zeiten.
Arthur Schopenhauer
Senilia. Gedanken im Alter
Verlag C.H. Beck München 2010
374 Seiten, EUR 29,95
ISBN 978-3-406-59645-2