„Akadämlich“ liefert eine angemessene Zeitdiagnose
Matthias Wiemers
Die an der Hochschule Anhalt in Bernburg lehrende und weiterhin in Berlin lebende Zümrüt Gülbay-Peischard ist gewissermaßen ein Musterexemplar gelungener Ausländerintegration in Deutschland. Nicht zufällig ist sie noch in der Türkei geboren und mit zwei Jahren Anfang der Siebzigerjahre nach Berlin-Wedding gekommen. Von der eigenen Lebensgeschichte der Autorin lesen wir in der bereits Ende des letzten Jahres erschienenen Lagebeschreibung der Hochschulrealität in Deutschland relativ wenig, aber doch so viel, dass es Spannungen mit dem Vater gab, dass man sich aber in der Familie nicht so sehr damit beschäftigen konnte, weil Vater und Mutter in Westberliner Fabriken arbeiteten. Die drei Töchter gingen offenbar meistens hungrig zur Schule, gegessen wurde abends. Eltern, die kein Geld für die tägliche Ernährung ihrer Kinder für Kimdergarten und Schule aufbringen, werden seit gut 20 Jahren verstärkt thematisiert. Sozialpolitische Maßnahmen wie das „Bildungspaket“ helfen hier aber nur wenig, sondern kosten vor allem Geld und werden gerade von denen, die es am meisten brauchen, nur unzureichend in Anspruch genommen. Heute haben es oft Menschen mit Migrationshintergrund schwer, die schon in der dritten Generation in Deutschland sind. Und die, die Heinz Buschkowsky als „Biodeutsche“ bezeichnet. Denn allen hat der Sozialstaat letztlich wenig geholfen, indem er ihnen Rechtsansprüche und Betreung versprach, während gleichzeitig die Befähigung, durch Erziehung Kompetenzen in der Familie weiterzugeben, beständig abnahm. Doch genug mit der migrationspolitischen Vorrede. Gehen wir doch auf das Buch unserer Autorin ein.
Der vorstehende Vorspruch mag aber insofern von Bedeutung sein, als die Autorin, die in Rekordzeit an der FU Berlin studiert und promoviert hat, seit ihrem 24. Lebensjahr als Lehrbeauftragte tätig gewesen und mit 28 Jahren Professorin für Wirtschaftsrecht an der Hochschule Anhalt geworden ist, es sich als Frau mit muslimischem Migrationshintergrund in unserer ach so politisch korrekten Welt mit Sicherheit eher erlauben kann, Probleme unseres Bildungssystems anzusprechen, als es etwa ein alter weißer Mann wie der Rezensent tun könnte, dem man vielleicht eher die Kultivierung von Privilegien und Vorurteilen nachsagen kann (auch wenn überhaupt nichts daran ist).
Die Autorin beschreibt im ersten Kapitel ein Problem, das jeder, der wie der Rezensent gelegentlich an deutschen Hochschulen Lehraufträge wahrnimmt, jederzeit bestätigen kann: Die meisten Studierenden wollen nichts für ihren Studienerfolg tun und kennen nur ihre Ansprüche, nicht aber berechtigte Erwartungen an ich selbst: „In beinahe jeder Vorlesung können Professoren wieder von vorn anfangen und Grundlagen legen, die eigentlich schon lange vorhanden sein sollten“ (S. 12). Oder, auf derselben Seite: „Eltern, die es versäumt haben, ihre Kinder zu erziehen, wollen den akademischen Abschluss und den beruflichen Erfolg des geliebten Kindes. Nur haben sie nicht vermittelt, dass vor dem Erfolg die Arbeit steht und dass das geliebte Kind, so wie es ist, eben nicht perfekt ist, sondern etwas tun muss.“
Weiter finden wir: „Es ist nicht so, dass nur gesellschaftliche Schranken und Hindernisse den Zugang zur Bildung verwehren. Manche wollen einfach nicht an den Möglichkeiten des Bildungsangebotes teilhaben“ (S. 19).
Oder: „Die akademische Ausbildung als Regelausbildung wird Deutschland nicht voranbringen“ (S. 20). Recht hat sie!
Im zweiten Kapitel wird geschildert, wie die Autorin Professorin wurde, darunter die Feststellung, dass sie fast drei Jahre lang – von der Vorbereitung auf das erste Staatsexamen bis zur Promotion (!) jeden Tag gearbeitet habe und nicht einen Tag frei hatte oder ausgegangen sei (S. 22). Was man so von Studierenden oder auch arbeitslosen Akademikern hört, ist aber, dass sie selbstverständlich von einem Urlaubsanspruch inklusive (Fern-)Reisen ausgehen. Insgesamt ist das zweite Kapitel Pflichtlektüre für alle, die meinen, einen Beitrag zur Ausländerintegration in Deutschland leisten zu müssen – auch wenn er nur darin besteht, eine Meinung zu diesem Thema zu haben. Der Leser erkennt hier, dass Integration nur durch Arbeit und Leistung geht, aber nicht durch Sozialleistung.
Im dritten Kapitel wird dargelegt, dass es inzwischen in Deutschland zu einfach geworden sei, einen akademischen Abschluss zu erlangen – eine Erkenntnis, die in den Folgekapiteln immer wieder variiert wird und die der Rezensent aus praktischer Erfahrung bestätigen kann. Man gewinnt hier auch den Eindruck von einer sehr engagierten Hochschullehrerin, die sehr gerne unterstützt, wenn sie nur das Gefühl hat, dass Studierende etwa leisten wollen. Und eigentlich auch, wenn diese Bereitschaft nicht vorhanden ist. Ein Problem, das hier geschildert wird, ist das Nachverhandeln von Prüfungsergebnissen (S. 49). Wir kennen das – auch wenn es nichtmal um das Bestehen geht. Wichtige Erkenntnis hier: „Das Studium ist nicht der Zeitpunkt, sich Konsumwünsche zu erfüllen. Die Zeit für das Studium muss als Investition in die Zukunft Vorrang haben“ (S. 55). Wie wahr!
„Es fehlt an vielem“ (4. Kapitel) zeigt vor allem auf, dass Studierende nichts lesen und es somit auch nicht können, ganz zu schweigen von Rechtschreibkenntnissen. Im Folgekapitel geht es darum, dass viele sich nicht mehr benehmen können, wenn sie etwa eine Professorin/ einen Professor per Email anschreiben. Generell wird an verschiedenen Stellen des Buches deutlich, dass sich die Welt der heutigen Studierenden oftmals nur um die eigene Person dreht und dass die Eltern dies auch noch unterstützen.
„Die substanzlose Wahrnehmung der Welt“ handelt von der Erkenntnis, dass Studierende ihre Umwelt nicht mehr wahrnehmen, keine Zeitungen lesen und nicht in der Lage sind, aktuelle politische Entwicklungen einzuordnen. Dabei geht die Autorin durchgehend davon aus, dass Studierende durch die Aufnahme eines Studiums eine Führungsposition anstreben. Eigentlich teilt der Rezensent dies, weswegen er ebenfalls in seinen Vorlesungen Bezüge zu aktuellen politischen Entwicklungen herzustellen sucht. Er teilt die Erfahrung der Autorin, dass da nichts zu erwarten ist („total desinformiert und völlig unpolitisch“, S. 101).
Im 7. Kapitel wird dann über „Studium und Migration“ berichtet und dass manche Damen mit Kopftuch sich diskriminiert fühlen, wenn man sie zur Arbeit anhalten will (gerade deshalb ist es so gut, dass hier jemand schreibt, dem eigentlich keine Vorurteile diesbezüglich unterstellt werden können – werden sie aber trotzdem).
Ein kurzes Kapitel zu „Corona“ zeigt: „Die Bedingungen in der Pandemie haben die Unterschiede in der geistigen Flexibilität und Leistungsbereitschaft der Studierenden noch deutlicher aufgezeigt“ (S. 129).
Die Kapitel 9 und 10 zeigen auf, dass aus schwach erzogenen Kindern ungeeignete Studierende werden. Das kann man alles unterschreiben, und man fragt sich unweigerlich, ob dieser Niedergang womöglich dem demokratischen System immanent sein könnte.
Im elften und vorletzten Kapitel ertönt ein Appell zu Arbeit und Fleiß, wo sich die Autorin zu recht auf alte deutsche Sprichwörter zur Arbeit und damit letztlich zu Tugenden der Arbeit beruft. Darin finden wir noch Ausführungen zur Unsitte, dass sich Studierende häufig krank schreiben lassen, wenn sie sich Prüfungen nicht gewachsen fühlen (S. 177). Dies zeigt auch noch einmal auf, dass wir ein massives Problem nicht nur mit dem Ethos der Erziehenden, der Lehrer und Professoren, sondern auch der Ärztinnen und Ärzte haben.
Dann finden wir ein Plädoyer, wonach Bildung, das kostenlose Angebot, nicht umsonst sein dürfe (Kapitel 12), und wo wir erfahren, was eigentlich so ein Studium kostet. Kapitel 13 schildert Schule als ein Gemeinschaftsprojekt und appelliert letztlich an alle Eltern, sich an der Gestaltung der Schule ihrer Kinder zu beteiligen, und es fordert weiterhin zu ehrlichen Leistungsbewertungen auf. Im vorletzten Kapitel wird für ein verpflichtendes Orientierungsstudium geworben – und für die Möglichkeit der Hochschulen, sich ihre Studierenden aussuchen zu können (trotz irritierender Ausführungen zur historischen Situation hinsichtlich des Hochschulzugangs (S. 220), wobei das Orientierungsstudium anstelle eines sozialen Jahrs absolviert werden kann (S. 224)). Die Notwendigkeit einer allgemeinen Dienstpflicht oder der Wehrpflicht sieht die Autorin nicht, hierauf wird nicht eingegangen. Der Band schließt mit einem kurzen Kapitel mit Hinweisen für ein erfolgreiches Studium und schließlich einigen Danksagungen.
Wenn man kritisch auf den Band blickt, fällt auf, dass recht viele Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler darin sind. Dies wäre nicht weiter schlimm – der Rezensent ist inzwischen Kummer gewohnt. Ein Rechtschreibfehler im hinteren Klappentext weist allerdings auf ein schwaches Lektorat. Aber das, und damit das Problem des Germanistikstudiums in Deutschland, wäre wohl ein ganz neues Kapitel.
Alles in allem: Die Autorin, die auch mehrfache (Berliner) Mutter ist, möchte man gerne mal kennenlernen.
Zümrüt Gülby-Peischardt
Akadämlich. Warum die angebliche Bildungselite unsere Zukunft verspielt
Quadriga Verlag, 2025
ISBN: 978-3-86995-154-6