Anspruch und Wirklichkeit
Die Dauerausstellung „Alltag in der DDR“ im Museum in der Kulturbrauerei
Thomas Claer
Die DDR ist bekanntlich vor 35 Jahren untergegangen, und das ist natürlich auch gut so. Doch lebt sie unzweifelhaft weiter in der bereits 2013 eingerichteten und seitdem kontinuierlich erweiterten Dauerausstellung „Alltag in der DDR“ im Museum in der Kulturbrauerei in Berlin-Prenzlauer Berg. Für null Euro Eintritt kann sich hier jeder, der möchte, einen sehr lebendigen Eindruck davon verschaffen, wie sich das tägliche Leben hinter Mauern und Stacheldraht seinerzeit so angefühlt haben mag. Man steht dann also neben einem echten Trabant, läuft durch eine mit viel Liebe zum Detail nachgebaute HO-Kaufhalle, blättert in Stasi-Akten, liest Briefe von unglücklichen NVA-Soldaten und vieles andere mehr. Die Ambivalenzen des DDR-Alltags sollen hier gezielt gezeigt werden, und das gelingt auf grandiose Weise. In diesem Staat war nämlich beinahe alles ambivalent: einerseits sich großspurig fortschrittlich gebend, andererseits kleinkariert und verbiestert. Und kaum irgendwo sonst auf der Welt ist wohl jemals die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit so übermächtig gewesen wie im real existierenden Sozialismus deutscher Prägung.
Es bleibt nicht aus, dass man als gelernter DDR-Bürger an diesem Ort sentimental wird, wenn plötzlich die Kulissen der eigene Kindheit und Jugend wieder vor einem auferstehen. Stundenlang könnte ich mich durch diese Räume treiben lassen und würde wohl immernoch irgendwo etwas neues Altbekanntes entdecken. Mein Lieblingsexponat in der Ausstellung ist selbstverständlich der Original-DDR-Zeitungskiosk mit lauter ostdeutschen Printprodukten aus jener Zeit – und dazu noch mit DDR-Fähnchen und einem Propaganda-Aushang zum 1.Mai, dem Kampftag der Arbeiterklasse. Klar, so lange, wie ich zurückdenken kann, gehörten Zeitungskioske trotz all ihrer damaligen Beschränktheit zu meinen Lieblingsorten. Und dieser hier rekonstruierte ist fürwahr wirklichkeitsgetreu gestaltet, zumindest auf den ersten Blick. Tatsächlich ist er dies dann freilich doch nicht, wenn man bedenkt, dass sicherlich an keinem Kiosk in der ganzen DDR die Bezirkszeitungen unterschiedlicher Regionen (wie hier „Schweriner Volkszeitung“, „Leipziger Volkszeitung“ und noch weitere) nebeneinanderliegend offeriert worden sein dürften. Es gab jeweils nur entweder die eine oder die andere, je nachdem, wo man sich gerade befand. Und auch solche typische „Bückware“ wie die qualitativ bemerkenswert hochwertige Zeitschrift „Wochenpost“ habe ich seinerzeit nie an einem Zeitungskiosk ausliegen gesehen. Sie ging entweder an ihre glücklichen Abonnenten (darunter meine Großeltern) oder nur an die privilegierte Kundschaft der Kioskfrau. Überhaupt waren damals nach meiner Erinnerung eigentlich alle auch nur ansatzweise interessanten Printprodukte regelmäßig schon nach kurzer Zeit ausverkauft. Wirklich immer vorhanden waren in der Auslage im DDR-Zeitungskiosk nur langweilige Journale wie die legendäre „Sowjetfrau“, auf deren Cover immer Damen mit unfassbar altmodischen Kleidern und Frisuren prangten. Aber das sind Feinheiten, die hier kaum ins Gewicht fallen. Kurzum, das Museum in der Kulturbraurei sollte zum Pflichtprogramm eines jeden Berlin-Besuchers gehören.