Wenig Worte, viel gesagt

Vor 90 Jahren erschien „Der Prophet“ von Khalil Gibran

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Thomas Claer

Manchmal dauert es einfach etwas länger. Schon sieben oder acht Jahre dürfte es her sein, dass meine Kollegin mich frank und frei fragte, ob ich in dieser Kolumne denn nicht auch einmal ihr Lieblingsbuch besprechen könnte. Ich ließ mir von ihr über das Buch berichten, wurde neugierig und sagte zu. Doch dann muss es mir wohl irgendwann in Vergessenheit geraten sein. Vor zwei oder drei Jahren entdeckte ich das schmale Bändchen dann in einer „Bücherbox“, einer ausrangierten Telefonzelle, wie es sie in Berlin wunderbarer Weise in immer größerer Zahl gibt, wo jeder seine aussortierten Bücher ablegen und/oder die dort vorgefundenen mitnehmen kann. Seitdem lag „Der Prophet“ von Khalil Gibran auf meinem Schreibtisch. So richtig mochte ich zunächst nicht ran, ich hatte keine ganz großen Erwartungen an das Buch. Aber wie man sich doch täuschen kann! Vorige Woche fand ich dann auf einem der angeblich über 50 Berliner Flohmärkte, auf denen sich der immer wieder märchenhafte Sommer in dieser Stadt in besonders vollen Zügen genießen lässt, die Hörbuch-CD des „Propheten“, gelesen von Otto Sander. Der Preis – ein Euro! – stimmte auch. Nun gab es kein Zurück mehr. Und wie es der Zufall wollte, feiert das Werk just in diesem Jahr sein 90-jähriges Erscheinungsjubiläum.
Also genug der Vorrede: Dieses Buch ist eine Entdeckung, um nicht zu sagen: eine Offenbarung. Doch wer ist sein Autor Khalil Gibran? Geboren 1883 als Gibran Khalil Gibran bin Mikha’il bin Sa’ad im heutigen Libanon (damals Osmanisches Reich) und schon 1895 nach Boston in die USA emigriert, kehrte er 1897 (mit vierzehn Jahren!) zum Studium der Kunst und Literatur in den Libanon zurück, lebte vorübergehend in Paris, dann wieder in Boston, feierte Erfolge als Maler, studierte als 25-Jähriger weiter in Paris, begann zu schreiben und ließ sich ab 1912 als Philosoph und Dichter in New York nieder, wo er 1931 mit nur 48 Jahren an Leberkrebs verstarb. Seine frühen Werke hatte er auf Arabisch verfasst, seit 1918 schrieb er fast nur noch auf Englisch. Er gilt als ein Wanderer zwischen den Welten des Orients und des Okzidents, der es über Generationen hinweg mit seinen stilistisch oftmals anrührenden und inhaltlich spirituellen Büchern zu großer Popularität brachte. Kritiker werfen seinen Werken hingegen einen Hang zur Sentimentalität und namentlich seinen Romanen eine allzu schwache Zeichnung ihrer Figuren vor. Nun, wenn man sein überwiegend aphoristisch gehaltenes Büchlein „Der Prophet“ liest, glaubt man gerne, dass die wahre Bestimmung dieses Autors wohl doch eher die Philosophie als die Romanschriftstellerei gewesen ist, denn in Friedrich Nietzsche-Manier (Zarathustra lässt grüßen) verkündet dort ein weiser Mann, in diesem Falle der Prophet Al Mustafa („der Erwählte und Geliebte“), einer Menschenmenge seine Weisheiten. Doch was vier Jahrzehnte zuvor bei Nietzsche schwerverdaulich bleibt und auf den zweifelhaften Übermenschen hinausläuft, ist bei Khalil Gibran angenehm geerdet. Auf wenigen Seiten entwirft er eine ganz eigene lebenspraktische Alltagsphilosophie, die ohne irgendwelche Zukunftsvisionen und ohne erhobenen Zeigefinger auskommt und die vom Geiste der Toleranz und des Respekts beseelt ist. In kraftvollen poetischen Bildern bringt er so ziemlich alles und jedes auf den Punkt, ohne sich in Abschweifungen zu verlieren. „Wenn die Liebe dir winkt, folge ihr, sind ihre Wege auch schwer und steil. Und wenn ihre Flügel dich umhüllen, gib dich ihr hin, auch wenn das unterm Gefieder versteckte Schwert dich verwunden kann.“ Viel mehr ist hierzu eigentlich gar nicht zu sagen… Natürlich hat auch bei diesem Verfasser – die Kapitelüberschriften („Von der Liebe“, „Von der Arbeit“, „Von der Freundschaft“ etc.) verraten es – der große Montaigne Pate gestanden, aber Khalil Gibran kann es weitaus knapper – ein Montaigne für kurz Angebundene gewissermaßen. Eine Menge der Sätze dieses Propheten ist wirklich universell, andere können einen aber auch schon mal ins Grübeln bringen. Da hat man sich bald zwanzig Jahre lang mit seiner Frau auf der Straße immer zu zweit einen Kaffee geteilt (denn da spart man schließlich am meisten), um dann bei Khalil Gibran unter der Rubrik „Von der Ehe“ lesen zu müssen: „Füllt einander den Becher, aber trinkt nicht aus einem Becher.“ Und gleich danach heißt es: „Gebt einander von eurem Brot, aber esst nicht vom selben Laib.“ Tja, erst heute haben wir uns wieder einen Döner geteilt… Man sollte sich der Gefahren von zu viel Nähe in der Zweisamkeit also bewusst sein.
Was der Prophet „von den Kindern“ zu sagen weiß, ist sicherlich eine der bekanntesten Passagen des Buches und hat vermutlich schon Millionen „Erwartungsgeschädigten“ aus der Seele gesprochen: „Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch, und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken.“ Ebenso vielsagend sind die Ausführungen „Vom Geben“, die sich wie ein Aufschrei gegen kleinbürgerliche Moralvorstellungen lesen. „Es gibt jene, die von dem Vielen, das sie haben, wenig geben – und sie geben um der Anerkennung willen, und ihr verborgener Wunsch verdirbt ihre Gaben.“ Ja, das einzige Geben, das eine Berechtigung hat, ist demnach das an diejenigen, die etwas haben wollen oder wirklich gebrauchen können, alles andere ist, um es zurückhaltend auszudrücken, fragwürdig. Und am schlimmsten wird es, wenn Abwägungen getroffen werden, wer denn bestimmte Gaben überhaupt verdient und wer nicht, oder dann, wenn Dankbarkeit für ungebetene Geschenke erwartet wird… Danke, Khalil!
Insbesondere den Juristen seien die Passagen „Von Schuld und Sühne“ ins Stammbuch geschrieben, ja, man wünscht sich solcherlei Betrachtungen beinahe in Strafrechts-Lehrbüchern: „Und wenn einer von euch im Namen der Rechtschaffenheit strafen und die Axt an den Baum des Bösen legen möchte, soll er ihn bis zu seinen Wurzeln prüfen; und wahrhaftig, er wird die Wurzeln des Guten und Bösen finden, des Fruchtbaren und des Unfruchtbaren, alle ineinander verflochten im stillen Herzen der Erde.“ Das ist eine der zentralen Botschaften des Buches: Wer sich immer so sicher ist, was richtig und falsch ist, was gut und schlecht ist, auf welcher Seite man unbedingt stehen sollte, der täte besser daran, etwas mehr nachzudenken und seine vorschnellen Schlüsse selbstkritisch zu überprüfen. Und umgekehrt ist auch die Vorstellung, dass bestimmte menschliche Handlungen von ausschließlich guten und edlen Motiven geleitet werden, bestenfalls naiv. Später heißt es noch im Text: „Sage nicht: ‚Ich habe die Wahrheit gefunden‘, sondern besser: ‚Ich habe eine Wahrheit gefunden.‘ “ Nehmt das, all ihr wichtigtuerischen Ideologen dieser Welt! Und den guten Lehrer erkenne man daran, dass er seinen Schülern nicht seine eigene Weltsicht aufzwingen, sondern sie zum selbständigen Denken erziehen will. Bravo!
Irgendwo findet sich dann aber auch der Satz, dass die erbärmlichsten Menschen jene sind, die Gold und Silber anhäufen. Hierin erweist sich, dass auch dieser Autor ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, der eigene Ressentiments entwickelt, die er, so wie viele andere auch, zu verabsolutieren geneigt ist. Dass viel Geld auch von klugen Menschen vor allem deshalb geliebt wird, weil es ihnen die Freiheit ermöglicht, ein Leben nach eigenem Gusto zu führen, lässt er nicht gelten. Nein, von der Freiheit hält dieser Philosoph, an dem offensichtlich auch Karl Marx nicht ganz spurlos vorbeigegangen ist, nicht viel. Die Freiheit überfordert den Menschen. Ihre parolenhafte Verkündung erscheint ihm als pure Schönfärberei: „Wie Sklaven sich vor einem Tyrannen erniedrigen und ihn preisen, obwohl er sie tötet.“ Freiheit ist eher etwas für Übermenschen, an die er nicht glaubt. „Wirklich frei werdet ihr nicht sein, wenn eure Tage ohne Sorge sind und eure Nächte ohne jeden Wunsch und Kummer, sondern erst dann, wenn sie euer Leben umfassen und ihr euch dennoch nackt und ungebunden über sie erhebt.“ Also wohl eher niemals. Und passend hierzu stimmt Khali Gibran auch noch ein Loblied auf die Arbeit an: „Mit Liebe arbeiten“, das sei es doch. „Arbeit ist sichtbar gemachte Liebe.“ Na, wenn er meint…
Am Ende des Buches kommt dann die Frage nach der Religion. Und hier windet sich der Prophet, der zuvor doch hin und wieder, wenn auch recht nebulös, von Gott gesprochen hat, ganz ähnlich wie weiland Goethes Faust, als dieser von Gretchen mit nämlicher Frage überrumpelt wird. Er sagt nicht „Namen sind Schall und Rauch“, aber doch: „Habe ich denn bislang nicht ständig über Religion gesprochen?“ Denn Religion sei doch irgendwie alles … beziehungsweise nichts. Und hier erinnert er dann doch wieder an Montaigne, der als freier Geist zwar wie selbstverständlich von „seiner christlichen Religion“ spricht und sich dann doch über alle ihre zentralen Dogmen stillschweigend hinwegsetzt. Wenn Khalil Gibran auf diese Weise noch ein paar verbohrte Religiöse auf die Wege des freien und kritischen, auch selbstkritischen Denkens mitnehmen kann, dann ist das natürlich schwer in Ordnung.

Khalil Gibran
Der Prophet
Neuausgabe Patmos Verlag Düsseldorf und Zürich München 2010
96 Seiten, EUR 9,90
ISBN-10: 3491725739

Veröffentlicht von on Jul 22nd, 2013 und gespeichert unter DR. CLAER EMPFIEHLT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

2 Antworten for “Wenig Worte, viel gesagt”

  1. Gold Price sagt:

    Während sich Gibran bei Ausbruch des 1. Weltkrieges in der Vorstellung als romantischer politischer Held gefällt, der sein Volk in die Befreiung führen könne, sieht die Realität in seiner Heimat anders aus. Die türkische Militärverwaltung schlägt blutig jegliche nationale Bewegung nieder. Eine alliierte Seeblockade und Beschlagnahmung der Lebensmittel führt zu Seuchen und einer schweren Hungersnot, in deren Folge 1916-18 über 100.000 Libanesen umkommen. Gibran spendet all sein Geld und ruft Christen wie Muslime auf, sich im Kampf gegen die Unterjocher zu vereinigen – vergeblich. Seine Ohnmacht dem Kriegsgeschehen gegenüber läßt ihn schließlich in eine Jahre dauernde Depression fallen. 1918 erscheint „Der Narr“, sein erstes Werk in englischer Sprache, die Einflüsse von Nietzsche, C. G. Jung und Tagore widerspiegelnd. Ab 1922 klagt Gibran zunehmend über Herzprobleme, die seiner nervösen Konstitution zugeschrieben werden. Als Verfasser arabischer Artikel und Gedichte genießt er mittlerweile einen guten Ruf. Gleichzeitig wächst Gibrans Selbstvertrauen in seine schriftstellerische Ausdrucksfähigkeit in englisch. Mary Haskells Meinung ist für ihn nun nicht mehr das Maß aller Dinge, auch wird er in finanzieller Hinsicht von ihr unabhängiger. Im Oktober 1923 erscheint nach zehnjähriger Arbeit endlich „Der Prophet“. Gibran hat mit diesem Werk in den USA jedoch zunächst nur mäßigen Erfolg. Die Briefe Gibrans an May Ziadeh – kriegsbedingt herrschte fünf Jahre Schreibpause – werden ab Anfang der 20er Jahre inniger. May reagiert aufgrund ihrer traditionellen Erziehung zunächst sehr verhalten auf seine Liebe.

  2. Silver Price sagt:

    wird sie zu euren Wurzeln hinabsteigen und sie erschüttern in ihrem Erdverhaftetsein.

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