Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
wenn ich so zurückblicke, dann denke ich mir manchmal: Wie konnte ich damals, vor mehr als zwei Jahrzehnten, bloß Jura studieren? Warum gerade dieses Fach, das eigentlich so gar nicht zu mir passt? Doch um die Antwort zu finden, muss ich gar nicht lange grübeln: natürlich aus Verlegenheit. Ich wusste wirklich nicht, was ich sonst hätte machen sollen. Zwar wären mir schon einige Studienfächer eingefallen, die mich sehr interessiert hätten: Literatur oder Philosophie, vielleicht auch Geschichte oder Politik. Oder Soziologie. Aber all das sind, wie man so schön sagt, „brotlose Künste“. Zumindest aus damaliger Sicht wäre die Wahl eines solchen Faches gleichbedeutend mit der Aussicht auf ein sehr unsicheres Berufsleben gewesen, womöglich auf Arbeitslosigkeit. Vor allem waren daher meine Eltern sehr erleichtert, als ich mich für Jura entschied. Wenn ihr Sohn schon partout nicht Medizin studieren wollte, um in ihre Fußstapfen zu treten, dann also wenigstens ein grundsolides Jurastudium. Und irgendwie glaubte ich damals auch selbst daran: Ein Jurastudium, so dachte ich mir, bringt zunächst einmal Ordnung und Struktur in mein Leben, ein Fundament, auf dem sich dann alles weitere aufbauen lässt. Tatsächlich hatte ich keine Ahnung, worauf ich mich da einließ.
Ein paar Jahre später, im Vorgespräch zur mündlichen Prüfung im ersten Staatsexamen, stellte mir der Vorsitzende der Prüfungskommission dann exakt die gleiche Frage, die mich heute noch umtreibt: „Warum haben Sie Jura studiert?“ Das fragte er wahrscheinlich jeden Prüfling. Aber ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet. Mit so ziemlich jeder juristischen Fachfrage hatte ich gerechnet, aber nicht mit solch einer persönlichen. Mir blieb also nicht viel Zeit, über den Hintersinn dieser Frage nachzudenken, und so antwortete ich frei heraus: „Es gibt andere Fächer, die mich mehr interessiert hätten, aber das sind alles brotlose Künste.“ Als ich später meinen Freunden von dieser Episode berichtete, fassten sie sich an den Kopf: „Wie kann man nur so blöd sein und eine solche Antwort geben? Ist doch klar, dass du dann mündlich verkackt hast.“ In der Tat hat mich die mündliche Prüfung notenmäßig so richtig in den Keller gezogen. Zwar waren meine Klausuren überdurchschnittlich, aber das half mir dann auch nicht mehr viel.
Mir wollte damals nicht in den Kopf, warum meine Antwort auf die Frage des vorsitzenden Prüfers so blöd gewesen sein sollte. „Brotlose Kunst“ heißt doch nur, dass man mit einer bestimmten Tätigkeit, die man gerne ausübt, nicht seinen Lebensunterhalt verdienen kann. „Brot“ steht doch als Metapher nur für Grundbedürfnisse wie Essen, Schlafen, Wohnen. Keineswegs hatte ich angekündigt, mit Jura reich werden zu wollen (das kam mir auch später nie in den Sinn). Ist es denn nicht legitim, so dachte ich mir, zuzugeben, dass man etwas studieren wollte, womit man später seine Grundbedürfnisse befriedigen kann?
Heute sehe ich das alles etwas anders. Meine damalige schlechte Beurteilung in der mündlichen Prüfung war vollauf berechtigt. Ein guter Jurist gibt in jeder Lebenslage clevere Antworten. Was er wirklich denkt und insbesondere, ob er etwas mag oder nicht mag, das kann er gut verbergen. Zum juristischen Handwerk gehört nicht zuletzt die Fähigkeit zum situativ angemessenen Smalltalk, der stets die eigenen Interessen (und vielleicht auch noch die des eigenen Mandanten; aber unbedingt in der genannten Reihenfolge) im Blick behält. Wer in eine mündliche Prüfung geht, der will gute Noten, und sagt also genau das, was die Prüfer von ihm hören wollen. Nicht mehr und nicht weniger, und bloß nicht irgendetwas anderes, was am Ende doch niemanden interessiert. Meine damalige Antwort war vor allem deshalb so blöd, weil ich die Frage wörtlich genommen und ehrlich beantwortet habe, statt sie als das zu begreifen, was sie war: ein erster Test meiner Eignung zur praktischen juristischen Tätigkeit. Man lernt so etwas nicht unbedingt im Jurastudium. Es ist eher eine opportunistische (oder positiver formuliert: pragmatische) Grundeinstellung, die manche von Natur aus mitbringen und andere erst mühsam erlernen müssen. Wieder andere lernen es nie, auch wenn sie rein fachlich gesehen noch so gut sein mögen.
Und doch lag ich mit meiner damaligen Entscheidung für das Jurastudium nicht völlig daneben. Meine Juristenausbildung hat mir später gut geholfen. Nicht durch das, was ich in ihr gelernt hätte. Davon habe ich zum Glück weit über 90 Prozent wieder vergessen. Sondern durch meinen juristischen Abschluss, der mir eine sehr angenehme, interessante und abwechslungsreiche berufliche Tätigkeit ermöglicht hat, die nur weitläufig etwas mit Jura zu tun hat, jedenfalls so, wie ich sie interpretiere. Dann schon eher mit den Fächern, die ich damals nicht studiert habe. Davon leben kann ich absolut nicht. Es ist eine weitgehend brotlose Kunst. Das macht aber nichts, denn durch viel Beharrlichkeit und etwas Glück habe ich mir nebenbei andere, weit lukrativere Einkommensquellen erschlossen. Ich würde sogar sagen, ich bin fein raus. Wie sagt ein wahrlich philosophisches plattdeutsches Sprichwort: „Dat treckt sich all‘nt nach’n Lief, secht de Snider.“ Sogar eine eigentlich gar nicht passende Juristenausbildung.
Dein Johannes