Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
mein Lieblingsmärchen während meiner Kindheit war das von den „Bremer Stadtmusikanten“. Schon lange bevor ich lesen und schreiben konnte, konnte ich es auswendig. Immer wieder verlangte ich danach, die Schallplatte zu hören, oder ich bat jemanden, es mir vorzulesen. Dabei konnte mir als kleinem Knirps doch noch gar nicht bewusst sein, welche tiefschürfenden und zeitlosen sozialen Fragen in diesem Märchen verhandelt werden. Aber ich muss es wohl damals schon irgendwie geahnt haben. Und eine besondere Ironie des Schicksals brachte es mit sich, dass ich lange Zeit später, als Jugendlicher, dann tatsächlich für mehrere Jahre in der Stadt Bremen leben sollte, die doch so unermesslich weit von meiner kindlichen Welt entfernt war und noch dazu – gänzlich unerreichbar – im „kapitalistischen Ausland“ lag…
Da werden also vier sprechende Tiere, die ihr Leben lang für ihren Herrn geschuftet und immer ihr Bestes gegeben haben, von diesem irgendwann nicht mehr gebraucht und kurzerhand vom Hof gejagt. Dabei gab es in jenen alten Zeiten, zu denen dieses von den Brüdern Grimm irgendwo aufgeschnappte Märchen spielt, zwar noch kein Rentensystem, aber doch immerhin mitunter schon ein „Gnadenbrot“, um den Nicht-mehr-Produktiven einen würdigen Lebensabend zu ermöglichen. Doch war das eben seinerzeit bestenfalls gängige Praxis, aber gleichwohl kein einklagbares Recht, sondern nur dem Gutdünken des jeweiligen Grundherrn überlassen. Und so werden die vier treuen Seelen also sang- und klanglos in eine vollkommen prekäre Altersexistenz entlassen. Doch getreu ihrem Motto „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall!“ nehmen sie ihr Schicksal selbst in die Hand und machen sich gemeinsam auf den beschwerlichen Weg nach Bremen, um dort einen Neustart als Straßenmusiker zu wagen. Den Mutigen gehört die Welt! Und unterwegs proben sie bereits ihre musikalischen Begabungen.
Doch wie so oft im Leben passiert auf dem Weg zum großen Ziel etwas, das alle Pläne über den Haufen wirft. Den vier Helden wird ihr womöglich recht begrenztes musikalisches Talent auf ungeahnte Weise nützlich, indem es ihnen gelingt, die mutmaßlich kriminellen und jedenfalls auch sehr furchtsamen Bewohner eines Räuberhauses mittels einschüchternder nächtlicher Performance zur überstürzten Flucht aus jenem zu veranlassen. So werden Esel, Hund, Katze und Hahn also zu Hausbesetzern. Und da sich kein rechtmäßiger Eigentümer oder aus anderem Grunde Nutzungsberechtigter der besagten Immobilie meldet, werden die Tiere schließlich sogar zu Hausbesitzern und sehen als solche einem entspannten Lebensabend entgegen. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und manchmal klappt es auch noch im fortgeschrittenen Alter…
Dein Johannes