Zittern

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

es ist einfach nur respektlos, wie über das wiederholte öffentliche Zittern unserer Bundeskanzlerin teilweise berichtet worden ist. Dabei macht es sie sogar ausnehmend sympathisch, dass selbst jemand wie sie, die im gnadenlosen poltischen Wettbewerb immer tadellos funktioniert hat, auch einmal menschlich reagiert und Schwäche zeigt.

Was ich nun schildern werde, habe ich bis jetzt noch niemandem erzählt. Aber wem, wenn nicht Dir, liebes Tagebuch, sollte ich es anvertrauen? Glücklicherweise kann es mir mittlerweile sogar völlig egal sein, selbst wenn alle Welt davon erfahren sollte. Solche Zitteranfälle wie Angela Merkel hatte ich nämlich auch schon, und zwar seit ihrem ersten Auftreten ca. 1990 über mehrere Jahre hinweg. Irgendwann wurden sie schwächer und sind dann schließlich gar nicht mehr aufgetreten. Sie hatten nicht direkt etwas mit meinem Jura-Studium oder mit meiner Juristenausbildung zu tun. Ebensowenig hatte ich damals, im zarten Alter von 18 bis Mitte 20, irgendwelche schlimmen Krankheiten, und ich war auch keineswegs drogen- oder medikamentenabhängig. Das Zittern war rein psychisch bedingt, eine Art Aufschrei der Seele, so erkläre ich es mir heute.

Es begann, als ich mit meinen Eltern bei Freunden in Hamburg eingeladen war. Wir saßen gemeinsam am Esstisch, unser Gastgeber erzählte etwas für mich sehr Unangenehmes, und mit einem Mal begannen meine Hände zu zittern, so dass ich die Suppe kaum noch essen konnte. Es hat, glaube ich, niemand etwas davon gemerkt. Ich zitterte ja auch nicht am ganzen Leib, sondern nur meine Hände. Bei späteren Anlässen solcher Art, wiederholte es sich dann immer wieder. Wenn ich mit meinen Eltern, ob mit oder ohne Besuch, egal an welchem Ort, am Tisch Suppe essen musste, begannen meine Hände zu zittern. Alleine oder in Begleitung von Gleichaltrigen geschah dies nie. Schon im Vorfeld solcher Ereignisse hatte ich eine panische Angst vor dieser Situation entwickelt, woraufhin mein Zittern sich natürlich immer mehr verstärkte. Dennoch hat, glaube ich, nie jemand etwas davon mitbekommen, weil ich es gut verstecken konnte.

Es hatte, so sehe ich es heute, viel mit der hohen Erwartungshaltung meiner Eltern mir gegenüber zu tun, der ich niemals wirklich entsprechen konnte und auch nicht wollte. Immer wieder kreisten ihre Gespräche und die mit ihren Freunden um die Karrierepläne und Karrieren der Kinder. Das war ihr Lieblingsthema. Ständig musste ich mir anhören, wie toll dieser Sohn oder jene Tochter irgendwelcher Leute dieses oder jedes gemacht hatte oder gerade machte. Ich wusste zwar lange Zeit noch nicht genau, was ich wollte, aber dafür schon sehr früh und sehr genau, was ich nicht wollte: nämlich Teil dieser Welt sein. Am liebsten wollte ich völlig ausbrechen und nichts mehr mit all dem zu tun haben. Aber dazu fehlte mir einerseits der Mut, und andererseits konnte ich es meinen Eltern auch nicht antun, die solche ehrgeizigen Hoffnungen und Erwartungen in ihren einzigen Sohn, in ihr einziges Kind gesetzt hatten.

Es lief dann auf eine Art Kompromiss-Haltung hinaus: Ich machte, was ich wollte, ohne völlig den Kontakt zu meinen Eltern abzubrechen. Und dafür musste ich mir dann bei unseren immer seltener werdenden Begegnungen noch all die langen Jahre bis zu ihrem Tod immer wieder ihre bitteren Vorwürfe anhören. Ich bin so erzogen worden, meine Gefühle immer zu kontrollieren. Sie durften keine Rolle spielen. Mein Vater war der Sohn eines preußischen Beamten. Bestimmte Verhaltensmuster übertragen sich vermutlich über Generationen.

Nüchtern betrachtet gibt es natürlich weitaus schlimmere Dinge in der Welt. Menschen, die einen psychischen Knacks erleiden, weil sie z.B. Krieg und Vertreibung ausgesetzt waren oder schweren Gewalttaten. Da ist eine familiäre Hölle, und eine solche ja auch nur in bestimmter Hinsicht, eigentlich kaum der Rede wert. Und so wie Kinder heute erzogen werden, dass sie alles dürfen, was sie wollen, das ist sicherlich das andere Extrem und tut auch niemandem gut. Dennoch sollten sich alle Eltern bewusst sein, was sie ihren Kindern antun, wenn sie sie mit einer überzogenen Erwartungshaltung peinigen. Kinder sind nicht das Eigentum ihrer Eltern, sondern eigene Personen, die ihr eigenes Leben führen und einfach nur in ihrer Eigenart respektiert werden möchten.

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Jul. 22nd, 2019 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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