Klassentreffen

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

so ein Klassentreffen nach 30 Jahren ist ja immer auch eine Zeitreise der besonderen Sorte. Man reist zurück in eine ferne Vergangenheit und bleibt dabei doch ganz im Hier und Jetzt. Was wohl die Mitschüler von einst aus der alten Zeit noch hinüber in die Gegenwart gerettet haben? Aus allen Himmelsrichtungen, in die es sie verschlagen hat, kommen sie nun zurück an die Orte ihrer Kindheit und Jugend, die teilweise kaum wiederzuerkennen sind – so wie auch viele der Mitwirkenden…

Bei einigen hatte ich schon große Schwierigkeiten in der Zuordnung, aber meinen alten Schwarm habe ich sofort erkannt. Sie war es unverkennbar, noch abgemagerter als früher, noch strenger in der Ausstrahlung. Als schön konnte man sie, die mich seinerzeit so entzückt hatte, beim besten Willen nicht mehr bezeichnen. Müde und erschöpft wirkte sie nun auf mich, hatte wohl immer viel gearbeitet und sich so durchs Leben gequält. Vor zwanzig Jahren, beim letzten Klassentreffen, bei dem ich dabei war, hatten ihre Augen mich noch angefunkelt. Diesmal konnte ich nichts mehr davon feststellen.

Ungefähr drei Jahre lang bin ich damals in sie verliebt gewesen, von der achten bis zur zehnten Klasse. Dann trennten sich unsere Wege, ohne dass sie zuvor wirklich gemeinsam verlaufen wären. Es kann ihr nicht entgangen sein, wie sehr ich sie damals gemocht habe. Aber leider bin ich ihr bis zuletzt erkennbar gleichgültig geblieben. Sie hatte damals einen älteren Freund, der sie regelmäßig von der Schule abholte. Vor zwanzig Jahren, beim letzten Klassentreffen, an dem ich teilgenommen hatte, erfuhr ich dann, dass sie Grundschullehrerin geworden und als eine der wenigen im Dorf geblieben war. Und zur allgemeinen Überraschung hatte sie den Dicken aus unserer Klasse geheiratet. Nun, zwanzig Jahre später, hatten sie zwei Kinder.

Plötzlich sprach mich eine beschwingte weibliche Stimme von der Seite an. „Dass DU da bist, das freut mich aber GANZ besonders.“ Oh, das war jene Mitschülerin, die mich damals in der Schule regelrecht gestalkt hatte, wie man heute sagen würde. Sie war zu jener Zeit so indiskret bei ihren Annäherungsversuchen vorgegangen, dass alle Welt es mitbekommen hatte und ich ständig überall dementieren musste, mit ihr liiert zu sein. Dabei hatte ich sie keineswegs unattraktiv gefunden, aber ihre ständig so aufgedrehte Art und Weise gefiel mir dann doch nicht. Und außerdem bin ich ja schließlich unrettbar anderweitig verliebt gewesen (was ich aber, glaube ich, ganz gut verbergen konnte). Noch dazu ist Flexibilität ohnehin nie meine Stärke gewesen. Aber das scheint ja auch bei anderen so zu sein… „Es freut mich wirklich sehr, dass du da bist!“, wiederholte sie. „Ja, ich freue mich auch“, antwortete ich vage verbindlich und vorsichtig abwiegelnd zugleich. Wenn ich sie so ansah, dann musste ich schon zugeben, dass sie sich ziemlich gut gehalten hatte. Sie war längst nicht mehr so mager wie als Jugendliche, was ihr außerordentlich gut stand. Mir fiel ein, dass sie mir vor zehn Jahren anlässlich unseres letzten Klassentreffens, bei dem ich aber verhindert war, eine E-Mail geschrieben hatte, die ich eigentlich beantworten wollte, es aber dann irgendwie nicht geschafft hatte. „Du hast mir eine E-Mail geschrieben“, sagte ich, „und eigentlich wollte ich dir auch antworten, aber…“ Ich suchte nach dem passenden Wort, das dann aber prompt aus ihrem Munde kam. „Du hast es wohl verdrängt“, meinte sie. „Ja, so kann man es sagen“, gab ich zurück. Wie genau sie Bescheid wusste! Und trotzdem gab sie nicht auf! Sie lebe jetzt in Frankfurt am Main, berichtete sie, sei ReNo-Fachkraft, verheiratet, zwei Kinder.

Nach einer Stunde, einer Flasche Bier und vielen Gesprächen mit diesem und jenem über dies und das bemerkte ich ein Stück weiter am Tisch den freien Platz gegenüber meinem alten Schwarm. Ich beschloss, mich umzusetzen, landete dabei aber ausgerechnet neben meiner alten Stalkerin. „Oh, wie schön, dass du dich zu uns setzt“, flötete sie mir entgegen, während mein alter Schwarm mich offensichtlich noch gar nicht bemerkt hatte. „Ich musste mir ja erstmal etwas Mut antrinken“, sagte ich wahrheitsgemäß und bereute es im selben Moment, da sie, meine alte Stalkerin, es ja auf sich beziehen musste. Im folgenden redete sie wie ein Wasserfall, weniger mit mir, als vielmehr mit den anderen um uns herum, auch mit meinem alten Schwarm, der seinerseits lebhaft alles Mögliche erzählte. Alle redeten pausenlos, so kam es mir jedenfalls vor, von ihren Kindern. Das ist für Kinderlose wie mich natürlich weniger interessant, aber wer wollte es ihnen verdenken. Auch über ihre Berufe redeten sie viel, dafür aber nur wenig über die alten Zeiten, was mich weitaus mehr interessiert hätte.

Eine halbe Stunde lang nahm mein alter Schwarm keinerlei Notiz von mir. „Du hast mir damals Kassetten aufgenommen“, sagte sie plötzlich unvermittelt zu mir und betrachtete mich dabei mit leicht spöttischem Gesichtsausdruck. Ich hatte sie wohl die ganze Zeit über angestarrt. „Ja“, sagte ich nur. Beinahe hätte ich sie gleich noch gefragt: „Und? Hast du sie noch?“ Aber das schien mir dann doch keine gute Idee zu sein. Denn vermutlich hätte sie darauf keineswegs geantwortet: „Natürlich habe ich sie noch, sie liegen alle mit einem blauen Bändchen versehen in meiner Schublade.“ Sondern sie hätte sehr wahrscheinlich so etwas geäußert wie: „Nee, die hab ich alle schon vor 28 Jahren weggeschmissen.“ Und diese Demütigung wollte ich mir ersparen. Aber was sollte ich ihr antworten? Nun war sie also gekommen, die einzige Gelegenheit des Abends, mich näher mit ihr zu unterhalten. Aber während ich noch überlegte, was ich zu ihr sagen könnte, hatte sie sich schon wieder ihrer Tischnachbarin zugewandt und erzählte munter etwas anderes…

Später fiel mir dann doch noch die adäquate Antwort auf ihre Bemerkung ein, nur leider konnte ich sie ja nun nicht mehr anbringen. Ich hätte meinen alten Schwarm fragen sollen: „Und? Hast du dich damals darüber gefreut?“ Das hätte sie nicht zu sehr in die Enge getrieben, aber ihr die Möglichkeit gegeben, etwas Nettes und noch halbwegs Unverfängliches zu mir zu sagen. Vor 30 Jahren hatte sie nämlich auf meine Kassetten-Geschenke recht kühl reagiert, sich aber immerhin jeweils knapp dafür bedankt. Obwohl es, wie ich wusste, ihre Lieblingsmusik war, die sie noch dazu auf andere Weise nicht kriegen konnte. Ich hatte sie ihr von meiner (im Intershop erworbenen) Schallplatte aus dem Westen aufgenommen. Andererseits hatte mein alter Schwarm mir aber auch nicht signalisiert, dass ich damit aufhören sollte. Also machte ich weiter, und sie ließ es geschehen…

Schon jetzt bin ich gespannt auf unser nächstes Klassentreffen in zehn Jahren. Dann werden 40 Jahre seit unserem Schulabschluss vergangen sein und 50 Jahre seit unserer Einschulung. Vielleicht werde ich dann ja meinem alten Schwarm die Frage stellen können, ob er sich damals, vor dann 40 Jahren, über meine Musik-Geschenke gefreut hat. Und vielleicht werde ich dann ja auch endlich einmal etwas Freundliches zu meiner alten Stalkerin sagen können. In jedem Falle müsste ich dazu aber mehr als nur eine Flasche Bier getrunken haben…

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Aug 19th, 2019 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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