Armin Nassehi gibt eine soziologische Antwort auf die technologische Herausforderung der Gegenwart
Matthias Wiemers
Der Münchner Soziologe Armin Nassehi war bislang nur Experten ein Begriff, weil er sich bislang nicht via Publikumsverlag an ein breiteres Publikum wandte. Die Digitalisierung als Phänomen unserer Tage ist für viele Zeitgenossen ein Buch mit sieben Siegeln – auch wenn es von mehr oder weniger kompetenten Menschen ständig im Munde geführt wird, die nur eines erkennen lassen: dass sie es nicht einordnen können und dem Phänomen deshalb einen unberechtigten Eigenwert zumessen.
So kritisiert auch Nassehi bereits im Vorwort seines Buchs, man nehme die Digitalisierung zunächst als existent hin, „um dann an diesem Topos all die Feuerwerke abzubrennen, die die Sozial- und Kulturwissenschaften auch im Angebot haben“.
Nassehi setzt Digitalität und Digitalisierung hingegen nicht voraus, sondern fragt, warum sie entstehen konnten und stellt im Folgenden systematisch die Frage, welches Problem überhaupt durch die Digitalisierung gelöst wird. Nassehi will „eine soziologische Theorie der digitalen Gesellschaft präsentieren (S. 9). Dabei ist die zentrale These des Autors, dass die gesellschaftliche Moderne immer schon digital war und deshalb die Digitaltechnik nur die „logische Konsequenz einer in ihrer Grundstruktur digital gebauten Gesellschaft ist (S. 11).
Eine wichtige Frage des Autors lautet etwa: „Was war an der Moderne, an der gesellschaftlichen Moderne womöglich vorher schon digital, damit die Digitaltechnik darin ihren Siegeszug antreten konnte? (S. 17) Schon in der Einleitung wird herausgearbeitet, dass es nicht nur um eine Theorie der Digitalisierung, sondern eine solche der digitalen Gesellschaft geht.
Zu Beginn des ersten Kapitels wird bereits die Antwort auf die Ausgangsfrage gegeben. „Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst. Das Argument lautet, dass die moderne Gesellschaft vor allem mit ihrer digitalen Form der Selbstbeobachtung auf jene Regelmäßigkeiten erst stößt, auf jenen Eigensinn und jene Widerständigkeit, die gesellschaftliche Verhältnisse ausmachen. (…) Dieser Gegenstand (d. i. die Gesellschaft, M. W.) enthält Muster, die man auf den ersten Blick nicht erkennt. Der zweite Blick, dem sie freilich ansichtig werden, ist zunehmend ein digitaler Blick.“ (S. 28)
Das Projekt der Digitalisierung sei ein Projekt des Kontrollüberschusses, stellt Nassehi im Anschluss an den Luhmann-Schüler Dirk Baecker fest. (S. 43) (Überhaupt ist Nassehi zwar selbst kein unmittelbarer Luhmann-Schüler, aber wandelt doch auf dessen Pfaden.)
Digitale Technik, und zwar schon die digitale Technik der amtlichen Statistik des 19. Jahrhunderts, verweise „auf eine Strukturiertheit des Gegenstands, die dem natürlichen Bewusstsein und dem bloßen Auge verborgen“ bleibe. (S. 45)
Eine zentrale Feststellung, die den Titel des Bandes in den Blick nimmt, lautet wie folgt: „Daten, die Individuen durch ihre Zahlungen, durch ihr Kaufverhalten, durch die Suchroutinen im Internet, durch Verbindungen in sozialen Netzwerken, durch die Aufzeichnung ihrer Autonummern usw. hinterlassen, sind für Unternehmen, Strafverfolgungsbehörden, für Marktbeobachtung, Verhaltenssteuerung, Verkehrssteuerung usw. nur deshalb interessant, weil die Kumulation des je individuellen Verhaltens sich zu gesellschaftlichen Mustern aufrunden lässt, mit denen man digital sieht, was analog verborgen bleibt.“ (S. 50)
Moderne Gesellschaften seien nur digital zu verstehen, deshalb könnten Digitaltechniken an sie andocken. Nicht der Computer habe (jedoch) „die Datenverarbeitung hervorgebracht, sondern die Zentralisierung von Herrschaft in Nationalstaaten“ – weswegen Nassehi den Beginn der Digitalisierung auf die Frühzeit verortet wird. (S. 62 f)
Dem kann man durchaus zustimmen: Waren es nicht die Verheerungen des 30jährigen Krieges, die in Deutschland nicht nur zur Stärkung der Landesherrschaft mit ihren Wiederaufforstungsprogrammen – im wörtlichen Sinne und im Sinne der „Peuplisierung“ – geführt haben?
Das zweite Kapitel ist dem „Eigensinn des Digitalen“ gewidmet. Eine wichtige Feststellung darin ist, dass die in dem berühmten Spiegel-Interview von 1966 mit Martin Heidegger von diesem aufgestellte These, wonach die Kybernetik den Platz der Philosophie einnehmen werde, inzwischen eingetreten sei (S. 88).
Digitalisierung bedeute zunächst „nichts anderes als die Repräsentation von etwas in elektrisch/elektronisch messbaren Differenzen“ (S. 105) Nassehi arbeitet sodann die Selbstreferenz der Datenwelt – am Vorbild des Buchdrucks – heraus. In ihrer Selbstreferenz wird Daten das Potential der Verdoppelung der Welt zugesprochen.
Diese „Verdopplungen der Welt“ werden als multipel bezeichnet (Kap. 3) Daten müssen nach Nassehi selbst als Beobachter begriffen werden, „die nur mit jener Realität umgehen können, die sie selbst erzeugen oder die mit ihnen verarbeitbar sind.“ (S. 110)
Die Verdopplung der Welt via Daten wird sodann an der Schrift und am Buchdruck exemplifiziert (mit einer Frage auch zum Rezensionswesen, S. 117).
Im vierten Kapitel („Einheit und Vielfalt“) konkretisiert Nassehi seine These, wonach das Bezugsproblem der Digitalisierung in der Gesellschaftsstruktur der modernen Gesellschaft verankert ist, in sieben Einzelthesen:
„1. Die moderne Gesellschaftsstruktur einer funktional differenzierten Gesellschaft muss die verschwundene Ordnung der alten Welt, in der alles seinen Platz hatte, in der man sich auf unveränderliche Traditionen berufen konnte und in der Wandel und Innovation ausgeschlossen werden sollten, nun durch eine andere Ordnung ersetzen.
2. Ordnung ist stets ein Sieg der Einfalt über die Vielfalt. Unter Einfalt verstehe ich die Generierung von Regelmäßigkeiten, die nicht strittig sind, die gewissermaßen als Grundbedingung vorgehalten werden können. Nur wo es solche Einfalt gibt, ist Vielfalt möglich, verschwindet diese nicht in haltloser Komplexität, sondern gibt sich einen Halt.
3. Diesen Halt scheint die moderne Gesellschaft in der Einfalt der funktionalen binären Codierungen ihrer Funktionssysteme zu finden. Es etablieren sich Minimalbedingungen, hinter die die Operationen nicht zurück können – alles Wirtschaften muss am Zahlungsmechanismus ansetzen, alles Politische am Machtmechanismus, alles Rechtliche muss Recht vom Unrecht scheiden, alles Wissenschaftliche kommt um Wahrheitsfragen nicht herum, alles Künstlerische wird ästhetisch (schön/nicht schön) verabreitet, und alles Religiös stößt auf die Immanenz der Transzendenz. Diese Zwei-Seiten-Formen erzwingen eine Positionierung, sie erzwingen sie binär und damit einfältig und verhindern haltlose Komplexität.
4. Gerade diese Einfalt ermöglicht es, Vielfalt aufzubauen. Wenn der Zahlungsmechanismus einmal etabliert ist, gibt es kaum Grenzen mehr für die Entfaltung und Formen von Möglichkeiten. Deshalb scheint Wachstum Wirtschaftssystem geradezu eingeschrieben zu sein, deshalb ist fast nichts vor politischer Macht sicher, deshalb wird Wissenschaft nicht nur besonders leistungsfähig, sondern auch in sich widersprüchlich, weil sie eben keine Eindeutigkeiten produziert usw.
5. Das Bezugsproblem einer solchen Gesellschaft. Sie muss in der Lage sein, das Verhältnis von Einfalt und Vielfalt zu bearbeiten.
6. Der Mechanismus zur Lösung dieses Bezugsproblems ist nicht Digitalisierung. Vielmehr ist diese Lösung eine immer schon digitale Lösung, indem den Funktionssystemen eine gewissermaßen brutale Alternativlosigkeit ihres Anschlusses gegeben ist.
7. die leistungsfähige Digitaltechnik folgt demselben Muster wie die gesellschaftlichen Funktionssysteme: Sie kann ihren Formenreichtum und damit auch ihren Siegeszug in fast allen Praktiken der modernen Gesellschaft nur erreichen, weil sie strukturell ebenfalls um das Verhältnis von Einfalt und Vielfalt gebaut ist. Ihre brutal einfache Codierung und Medialität in binären Mustern ist der Boden für den vielfältigen, kaum begrenzbaren Einsatz in allen Bereichen der Gesellschaft.“
Digitalisierung ist nach Nassehi selbst kein eigenes Funktionssystem der Gesellschaft, sondern „Digitalität ist eine technische Form“.
Jetzt ist der Autor in der Lage, seine Ausgangsfrage vollständig zu beantworten. „Digitalisierung setzt am Bezugsproblem gesellschaftlicher Komplexität an.“ Die Digitalisierung sei kein Fremdkörper in der Gesellschaft, sondern „Fleisch vom Fleische der Gesellschaft“ (S. 175 ff.).
In wichtiger Hinweis aus dem dann folgenden Exkurs „Digitaler Stoffwechsel“ sei gegeben: „Und dennoch ist die Rede von der Immaterialität ausschließlich für die Frage der Datenverarbeitung richtig, die technische Basis ist hochenergieintensiv und von seltenen Rohstoffen abhängig.“ (S. 191) Der dann gegebene Hinweis, dass etwa ein Tablet-Computer im verbundenen Rechenzentrum bis zu fünfmal so viel Energieverbrauch erzeugt, wie es selbst benötigt. (192)
Das fünfte Kapitel über „Funktionierende Technik“ ist sehr erhellend. Es zeigt, dass Technik dann nicht hinterfragt wird, wenn sie funktioniert. Sodann wird die „Lernende Technik“ (Kap. 6) und „Das Internet als Massenmedium“ (Kap. 7) behandelt, worin die besondere Leistung der klassischen Massenmedien in einer Synchronisationsleistung erblickt wird (S. 269). Vor allem habe sich mit dem Internet der Rundfunkt verändert –vom Echtzeitmedium zu einem „zeitstabilen Archiv“ (S. 276) mit „Voice-Option“, also mit der Möglichkeit, auch selbst zu senden.
Schön sind die Beobachtungen zur Kommunikation im Internet. Wenn sich etwas wirklich ausschließe, dann sei es offene und freie Kommunikation und Vergemeinschaftung (S. 277) Frei flottierende Kommunikation im Netz kenne wenig Selektionsdruck, und wer das für eine Krisendiagnose halte, „hatte zuvor unrealistische, nachgerade naive Erwartungen“ (S. 279).
Im Kapitel „Gefährdete Privatheit (8) setzt sich Nassehi ausführlich mit dem Thema informationelle Selbstbestimmung auseinander – und weist nach, das wir Juristen das Problem gar nicht verstehen. Informationelle Selbstbestimmung sei eine Zielgröße, die gerade unter Bedingungen komplexer Beobachtungsverhältnisse nachgerade unmöglich sei (S. 295). Deshalb sei „privacy“ epistemologisch ausgeschlossen.
Datenschutz hält Nassehi letztlich für vergeblich, weil das Funktionieren der Technik der Feind der Reflexion sei (S. 297). Die Behauptung, das rationelle Zeitalter der Moderne sei transparenter und weniger geheimnisvoll, halte einer genaueren Betrachtung nicht stand. An die Stelle Götter und Dämonen sei die auf Reflexion verzichtende Technik getreten (S. 298).
Ein wunderbares Zitat, das gerade uns Juristen zum Nachdenken anregen sollte, findet sich auf S. 310. „Unser Unbehagen gegenüber Big Data ist sehr produktiv. Es konfrontiert uns mit unserer Naivität, mit der wir uns in dieser Welt einrichten. Die Kritik an Big Data ist eine oberflächliche Kritik, wenn sie wirklich daran glauben sollte, dass man staatliche Schutzrechte gegenüber dem Staat einfordern kann, wenn man weiß, dass die Staatlichkeit des modernen Staates seit dem 18. Jahrhundert gerade darin gründet, dass er sich mit digitalisierten Daten versorgt – und das letztlich seit es so etwas wie zentrale Planung von Bevölkerungen gibt.“
Und weiter: „Big Data und die Folgen können derzeit womöglich als Gelegenheit für eine große Selbstaufklärung gelesen werden, eine Selbstaufklärung darüber, dass private Lebensformen stets gesellschaftlicher waren, als es den gewohnten Anschein hat.“ (S. 316)
Alles in allem sieht der Autor in der Digitalisierung eine „Chance für die Soziologie“ und hält den artikulationsfähigen Gruppen in unserer Gesellschaft am Ende einen Spiegel vor:
„Und deshalb ist die Digitalisierung selbst ein Detektor, der der Gesellschaft einen Spiegel vorhält.. Dass man sie selbst eben nicht in der klassischen Weise eines konsentierbaren Raums vorstellen muss, in dem man kollektiv bindende Entscheidungen über alles Wichtige treffen kann. Das ist der milieuspezifische Traum jener Mittelschichtintelligenz, die zwar viel über Praxis und Technik redet, aber am Ende an einem geradezu sozialtechnologischen Konsens-Ideal hängt. Dieses Milieu glaubt nicht so recht an die Widerständigkeit unseres Gegenstandes – vielleicht weil es dasjenige Milieu ist, in dem die Widerstände ziemlich abgefedert aufblitzen.“
Das Buch ist, auch wenn der Jurist längst nicht alles versteht, was der Soziologe so schreibt, ein großer Wurf. Mich Ostwestfalen hat besonders gefreut, was der Autor auch so von seiner Vita als gebürtiger Gelsenkirchener einstreut und wie er selbst die technische Entwicklung und ihre Nutzung im Hochschulumfeld erlebte (Schönes westfälisches Wort auf S. 20: „Zusammenfuckeln“)
Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, Verlag C. H. Beck, München 2019, 352 S., 26 Euro (978-3-406-74024-4)