Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
das eindrucksvollste und erschütterndste Märchen der Brüder Grimm war für mich immer das vom „Fischer und syner Fru“, nur echt auf Plattdeutsch und mit drastischen Formulierungen versehen wie jener, dass der gutmütige und bescheidene Fischer gemeinsam mit seiner ambitionierten, vom Ehrgeiz zerfressenen Gemahlin in einem „Pisspott“ lebt, wofür es keine hochdeutsche Entsprechung geben dürfte… Zumindest wohnen sie dort, also im besagten „Pisspott“, am Anfang der Geschichte, bis eines Tages dem Fischer wundersamerweise ein sprechender Butt ins Netz geht. Der Fischer lässt den Butt, so wie dieser es wünscht, einfach wieder ins Wasser, ohne sich dafür eine Gegenleistung zu erbitten, denn so etwas wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Doch „syn Fru“ spielt da nicht mit. Energisch bewegt sie ihren Mann dazu, den Butt noch einmal herbeizurufen und ihn – denn ein Fisch, der sprechen kann, müsse schließlich auch zaubern können – um die Erfüllung eines Wunsches als Belohnung zu ersuchen. Dem Fischer ist das zwar unangenehm, aber er tut dann doch, wozu seine Frau ihn mit allen Mitteln drängt. Kurz darauf sitzen sie schon nicht mehr in ihrem „Pisspott“, sondern in einem schönen Einfamilienhaus mit Meeresblick. Doch die Immobilienträume der „Fru“ haben sich damit noch keineswegs erschöpft. Bald schon langweilt sie sich in ihrer Villa so sehr, dass nun ein Schloss her muss. Abermals schickt die „Fru“ ihren Mann zum Butt, der sich auch diesmal weichklopfen lässt und für das gewünschte Upgrade in der Behausung sorgt. Doch selbst das Residieren im Schloss mitsamt Bediensteten stellt die unersättliche Fischersfrau nicht lange zufrieden. Nun will sie Königin werden, alsbald dann auch noch Kaiserin und letztendlich der liebe Gott. Bis hierhin hat der Butt noch jedem ihrer Wünsche entsprochen, doch nun ist endgültig Sense. „Gah man nach Hus“, sagt der Butt zum Fischer. „Se sitt all weder in`n Pisspott.“ Natürlich, das musste ja so kommen, denkt man sich. Denn genauso ist es ja mit der menschlichen Gier. „Geldverdienen ist wie das Trinken von salzigem Meerwasser“, wusste Arthur Schopenhauer. „Je mehr man trinkt, desto durstiger wird man.“ Und das gilt nicht nur fürs Geldverdienen, sondern auch für das Anhäufen von Wohlstand und Macht jeder Art. Die große Kunst im Leben besteht darin, es auch mal gut sein zu lassen, so wie es der Fischer im Märchen ja auch immer wieder vorschlägt („Nu wüll wi mol tofräden sin“), doch damit bei seiner „Fru“ regelmäßig kein Gehör findet. „Glücklich ist der, der weiß, dass er genug hat“, befand schon vor mehr als zwei Jahrtausenden ein gewisser Diogenes, und hat hiermit in seiner Tonne sitzend gleichsam den Nagel auf den Kopf getroffen. Dieses tiefsinnige Märchen von der hybriden Fischersfrau zeigt, in welche Abgründe die ungezügelte Gier am Ende jene stürzen lässt, die sich nicht mäßigen können. Eine Geschichte von universeller Gültigkeit.
Dein Johannes
PS: Und dementsprechend lautet auch die Glücksformel aus Johann Wolfgang von Goethes „Wilhelm Meister“: „Der verständige Mann braucht sich nur zu mäßigen, so ist er auch glücklich.“