Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
in meinem bisherigen Leben habe ich immer großen Wert darauf gelegt, zu allen gesellschaftlich relevanten Fragen eine Meinung zu haben. Als mündiger Staatsbürger, so fand ich bisher und finde es grundsätzlich auch noch jetzt, ist man das seinem Gemeinwesen schließlich schuldig. Aber es fällt mir immer schwerer, das durchzuhalten… Seit es den Wahl-o-Mat gibt, also seit fast 20 Jahren, habe ich ihn bestimmt vor jeder Bundes-, Landtags- und Europawahl zu Rate gezogen, auch wenn ich in den allermeisten Fällen gar nicht wahlberechtigt war. Es ging mir darum, mich politisch zu positionieren und darüber zu versichern, wo ich im Parteienspektrum stehe. Dabei habe ich dann immer wieder überraschende Ergebnisse erzielt, ohne dass sich meine grundlegenden Haltungen und Überzeugungen sonderlich verändert hätten. Denn je nach Bundesland und gestellten Fragen hat mir der Wahl-o-Mat von schwarz bis dunkelrot schon alles parteipolitisch Denkbare zur Wahl empfohlen; nur die Rechtsaußen-Parteien zum Glück noch nicht. Doch ist es früher, also sagen wir bis vor zehn oder 15 Jahren, nur sehr selten vorgekommen, dass ich
eine Frage nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantwortet habe. Und genau das ist heute anders geworden, was mich zumindest ein wenig irritiert… Ungefähr die Hälfte der vom Wahl-o-Mat gestellten Fragen konnte ich bei den letzten Landtagswahlen nur mit einem „neutral“ beantworten. Manchmal hielten sich dabei Argumente und Gegenargumente in meinen Augen weitgehend die Waage. Aber gar nicht so selten war es mir – ich traue mich kaum, es zuzugeben – einfach nur egal.
Na gut, in jedem Wahl-o-Mat-Test gibt es auch die für mich ganz eindeutigen Fragen: Mehr Geld für Projekte gegen Rechtsextremismus? Klar, denn dafür kann man eigentlich nie genug ausgeben, und besser kann man Geld wohl auch kaum investieren. Ein Tempolimit auf Autobahnen? Ganz eindeutig ja. Dagegen können doch nur unverbesserliche Auto-Faschisten sein… Aber ob man die Fahrrinne der Hamburger Elbe vertiefen oder den Fernbahnhof Altona verlegen sollte, oder was es da sonst noch so alles an lokalen Streitthemen gibt… Nicht einmal bei bundespolitischen und internationalen Themen bin ich mir inzwischen noch wirklich sicher, was hier oder dort das Richtige ist…
Muss man wirklich immer zu allem eine Meinung haben? Und noch dazu, wenn man keine Ahnung davon hat, weil es einen weder betrifft noch interessiert? Ich denke nein und versuche, gelassen damit umzugehen….
Dein Johannes