Wie in Ostdeutschland aus den „Oberschulen“ der untergegangenen DDR wieder grundständige Gymnasien wurden
Benedikt Vallendar
Erfurt / Dresden – Gerade hatte das Erfurter Gymnasium „Johann Gutenberg“ sein erstes Jubiläum gefeiert, da geriet es unrühmlich in die Schlagzeilen. Es war im April 2002, als ein ehemaliger Schüler bei einem Amoklauf mehrere Lehrer, Mitarbeiter und sich selbst erschoss. Die Schule blickte damals auf eine zehnjährige Erfolgsgeschichte seit dem Ende der DDR zurück. Im September 1991 war die vormalige „Polytechnische Oberschule 7 Johann Gutenberg“ auf Beschluss des thüringischen Kultusministeriums in ein grundständiges Gymnasium umgewandelt worden. Nicht nur in Erfurt, überall in den neuen Bundesländern entstanden in dieser Zeit Gymnasien, auch in privater und kirchlicher Trägerschaft. Ebenso Real-, Mittel- und Hauptschulen. Gleichzeitig kehrte die vierjährige Grundschule nach Ostdeutschland zurück. Das in 40 Jahren DDR entmündigte und oft schikanierte Bildungsbürgertum hatte mit dem acht und neunjährigen Gymnasium seine lang entbehrte Schulform zurück. Dafür hatten die frei gewählten Länderparlamente zwischen Ostsee und Erzgebirge ein Jahr zuvor die Weichen gestellt. Hinter den Kulissen der ostdeutschen Kultusbürokratie tobte in den ersten Monaten nach der Wiedervereinigung ein zäher Kampf darüber, welche der früheren Oberschulen künftig die Bezeichnung „Gymnasium“ tragen durften. Das Gymnasium sollte seine Exklusivität in der schulischen Vorbereitung auf ein Universitätsstudium zurück erhalten. Auch die kathoilische Kirche spielte dabei eine gewichtige Rolle. Dutzende Gymnasien in den neuen Bundesländern stehen heute in ihrer Trägerschaft, darunter das renommierte Peter-Breuer-Gymnasium in Zwickau.
Aufgezwungenes Einheitsschulsystem
Wäre es allein nach den Willen der ersten brandenburgischen Bildungsministerin Marianne Birthler (Bündnis `90 / Die Grünen) gegangen, wären sowohl Bezeichnung als auch dazugehörige Schulform ein Relikt der alten Bundesländer geblieben. Doch mit dem Ende der SED-Herrschaft war auch das der Bevölkerung einst aufgezwungene Einheitsschulsystem endgültig auf dem Müllplatz der Geschichte gelandet. Vielfalt statt Einheit, lautete fortan die Handlungsmaxime der politischen Führungsklasse bei der Umgestaltung des Bildungssystems in den neuen Bundesländern. Das thüringische Gymnasium beginnt seither mit der fünften Klasse und führt nach acht Jahren zur Allgemeinen Hochschulreife. Nur Brandenburg und Berlin gingen mit der sechsjährigen Grundschule einen eigenen Weg und bewahrten sich damit ein Stück Vergangenheit. Denn zu DDR-Zeiten hatten alle Schülerinnen und Schüler bis zur zehnten Klasse gemeinsam auf der polytechnischen Oberschule (POS) gelernt. Die klassenlose Gesellschaft kannte eben auch keine Unterschiede in der Begabung. Stets stand in der DDR das Kollektiv vor dem Individuum, was fatale Folgen für Wirtschaft und Wissenschaft hatte. Wer im SED-Staat kreativ, kritisch oder gar innovativ sein wollte, den bremste das System von frühester Jugend aus. Pubertäres Aufbegehren, bunte Haare und einfach nur Fragen an die Welt der Erwachsenen quittierte der DDR-Staat mit vielerlei Repression. Etwa durch jene berüchtigten Jugendwerkhöfe im sächsischen Torgau, die im Volksmund zu Recht die Bezeichnung „Kinder-KZs“ trugen.
Ende der Achtzigerjahre lag die DDR vollends am Boden, was auch mit der völlig verfehlten Schulpolitik der Ministerin Margot Honecker zusammenhing. „Nur wenige durften zu DDR-Zeiten nach der POS weitermachen und auf der erweiterten Oberschule (EOS) ihr Abitur ablegen“, sagt Susann Meerheim, Pressesprecherin im sächsischen Kultusministeriums in Dresden. „Oft befanden sich Erweiterte Oberschulen nur in Kreisstädten, was für die Schüler weite Anfahrtswege, bis hin zu Internatsaufenthalten bedeutete“, so Meerheim. Soziale Herkunft und die politische Nähe des Elternhauses zur SED waren zudem wichtige Aufnahmekriterien. Sonderregelungen gab es zu DDR-Zeiten allein für angehende Theologiestudenten, die ihr Abitur auch unter dem Dach der Kirchen ablegen konnten, so etwa der spätere Außenminister Markus Meckel (SPD). „Das Interesse, ein Gymnasium zu besuchen, stieg nach 1990 rasant an, innerhalb kürzester Zeit von zuvor gesteuerten zehn bis zwölf auf etwa 35 Prozent eines Jahrganges“, sagt Meerheim. Zuständig für die Umwandlung waren in der Regel die kommunalen Schulträger. „Fast alle ehemaligen EOSen wurden in Gymnasien überführt, ebenso zahlreiche POSen“, sagt Meerheim. Dabei hätten vor allem schulnetzplanerische Aspekte, wie das zu erwartende Einzugsgebiet, Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln sowie räumliche und bauliche Voraussetzungen eine Rolle gespielt, sagt Meerheim. „In diesem Prozess haben alle neuen Bundesländer festgelegt, welcher Schulstandort künftig als Grundschule, Sekundarschule oder Gymnasium geführt werden sollte“, sagt Meerheim. In Sachsen hatte sich die Politik nach 1990 für ein zweigliedriges Schulsystem, bestehend aus Mittelschule und Gymnasium entschieden.
Kampf um die Bezeichnung „Gymnasium“
Doch die weithin erhoffte Wiedergeburt des Gymnasiums stand zunächst auf unsicherem Terrain. Der Runde Tisch, der sich in den Wendemonaten 1989 als provisorisches Kontrollgremium der DDR-Regierung unter Ministerpräsident Hans Modrow (SED) gebildet hatte, wollte den Begriff „Gymnasium“ gar nicht erst aufkommen lassen. Eine künftige Staats- und Gesellschaftsform sollte, so die überwiegend links orientierten Bürgerrechtler, „emanzipiert“ und frei von allem „Elitärem“ und Herausgehobenen sein. Es verwundert daher kaum, dass viele der selbst ernannten Einheitsschulapologeten später bei SPD und Grünen Politkarriere gemacht haben. Doch die Stimmung in der Bevölkerung war Ende 1989 eine andere. Die Mehrheit der Ostdeutschen hatte genug von allem „Antibürgerlichen“ und wünschte, dass sich die natürliche Heterogenität ihrer Gesellschaft auch endlich im Bildungswesen niederschlug. Die am 18. März 1990 frei gewählte DDR-Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU) trug dem Rechnung und führte noch vor dem Beitritt zur Bundesrepublik ein nach Schultypen differenziertes, erstes Lehrer-Staatsexamen ein, an das sich eine schulpraktische Ausbildung anschließen sollte. Der zu DDR-Zeiten übliche „Diplom-Lehrer“, der direkt nach seinem Uniabschluss an allen Schulen unterrichten konnte, war damit passé.
Indes wenig dramatisch haben die meisten Schülerinnen und Schüler den Wechsel vom Einheits- zum gegliederten Schulsystem erlebt. Christiane Völkel, Jahrgang 1974, die heute als Geschäftsführerin des Sankt Benno Verlages in Leipzig arbeitet, kann sich nur an „wenige Fälle“ erinnern, in denen Lehrer zwangsweise die Schule verlassen haben, sagt sie. Im November 1989 besuchte sie eine Polytechnische Oberschule in Köthen, und als bekennender Katholikin wäre ihr der Weg zum Abitur eigentlich verschlossen gewesen. Dann fiel im November 1989 die Mauer, Völkel studierte erfolgreich Germanistik und hat später Karriere in der PR-Branche gemacht. „Der Unterrichtsbetrieb lief nach dem Fall der Mauer normal weiter“, erinnert sie sich. Auch zu DDR-Zeiten habe es stets an dem jeweiligen Lehrer gelegen, ob die Klasse „Spielraum“ hatte, etwa bei Interpretationen in den Fächern Deutsch oder Kunst, sagt sie. Etwas rigider sei es in Fächern wie Geschichte oder ESP, Einführung in die sozialistische Produktion zugegangen, sagt sie. Ganz zu schweigen vom Fach „Staatsbürgerkunde“, über das die SED direkt in die Klassen hineinregiert hat.
Überprüfung auf Stasi-Vergangenheit
Viele ehemalige DDR-Lehrer mussten sich in den Neunzigerjahren ihre Weiterbeschäftigung vor Arbeitsgerichten erstreiten. Dabei ging es vor allem um Funktionen in Staat und Partei nebst erhaltenen Auszeichnungen. Bei der Besetzung von Schulleiterposten waren insbesondere Kontakte zum früheren Ministerium für Staatssicherheit (MfS) von Bedeutung. Grundlage hierfür war Artikel 20 des Einigungsvertrages, der so genannte „Sonderkündigungstatbestände“ vorsah. Bei persönlicher Nichteignung, wozu auch Stasi-Zuträgerschaft gehörte, konnte der Arbeitnehmer entlassen werden, wenn ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erschien. Ein Großteil der „belasteten“ Lehrkräfte, die ahnten, dass sie entlassen würden, sei freiwillig aus dem Schuldienst ausgeschieden, sagt Karina Kunze, ehemalige Sprecherin des sachsen-anhaltinischen Kultusministeriums in Magdeburg. In Einzelfallprüfungen wogen die zuständigen Dienststellen belastende gegenüber entlastenden Umständen ab und machten dabei von ihrem behördlichen Ermessen Gebrauch. Für den Fall, dass der betroffene Lehrer keine Gewähr bot, die Grundwerte des Grundgesetzes zu vermitteln, verlor er seine Anstellung. Dabei gingen die Behörden durchaus konsequent vor. Bereits im Herbst 1991 hatte allein im SPD-regierten Land Brandenburg jeder achte Lehrer mit DDR-Biografie seine Stelle verloren.
Mancherorts stritten Lehrer über die Anerkennung ihres Examens. Mal befähigte das alte DDR-Diplom zum Gymnasiallehrer, in anderen Fällen konnten Lehrer damit nur innerhalb der Sekundarstufe I unterrichten, was Gehaltseinbußen bedeutete. „Die Modrow-Regierung hatte noch im Dezember 1989 zahlreiche Lehrkräfte eingestellt, die zuvor als Pionierleiter, Sekretäre für Agitation und Propaganda sowie in der berüchtigten DDR-Heimerzieher tätig gewesen waren“, sagt Professor Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität (FU) Berlin. Die einstigen Gralshüter der SED-Pädagogik mussten jedoch in vielen Fällen das Feld räumen und sich beruflich neu orientieren. Damit war in den neuen Bundesländern endgültig der Weg frei für eine Neuausrichtung gymnasialer Bildung nach vier Jahrzehnten kommunistischer Zwangsherrschaft.