Katharina M. Hauer referiert eine frühe Entscheidung des BVerwG im Kontext
Matthias Wiemers
Juristische Doktorarbeiten müssen auch heute noch nicht unbedingt lang sein. Vorausgesetzt, man findet ein geeignetes Thema, mit dem man sich in einem überschaubaren Rahmen so auseinandersetzen kann, dass hierfür nicht auf hunderten von Seiten Rechtsprechung und Literatur – inzwischen in der Rechtswissenschaft uferlos – referiert werden müssen.
Eine solche Arbeit ist Katharina M. Hauer gelungen, die augenscheinlich in eigener Rechtsanwaltskanzlei arbeitet.
Mit der Fürsorge-Entscheidung, die im sozialrechtlichen Schrifttum kaum vertieft erwähnt wird (rühmliche Ausnahme: Trenczek/Tammen/Behlert/ von Boetticher, Grundzüge des Rechts. Studienbuch für soziale Berufe, 5. Aufl. 2018, S. 96), ist an eher versteckter Stelle ein Wendepunkt im Staat-Bürger-Verhältnis markiert worden. Denn hier wurde – auch als Vorläufer für das Bundessozialhilfegesetz 1961 – der überkommene Begriff der Fürsorge als Begriff aus dem paternalistischen Obrigkeitsstaat (vgl. aber Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG!) neu interpretiert. Hatte man zuvor die Fürsorge unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr betrachtet und deswegen staatlicherseits die (kommunalen) Fürsorgebehörden dazu verpflichtet, sich um Bedürftige entsprechend zu kümmern, so erschienen diese Fürsorgeempfänger als Objekte der hoheitlichen Gewalt, letztlich als Untertanen, die keinen einklagbaren Rechtsanspruch auf nicht auf Beitragszahlungen beruhende Sozialleistungen geltend machen konnten, sondern nur Nutznießer eines Rechtsreflexes waren. Personen, denen die Öffentliche Hand nicht durch Fürsorgemaßnahmen half, drohten zu verwahrlosen und zu Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu werden. Die vorstehende Erkenntnis kann man fast vollständig gewinnen, wenn man nur die knappe Arbeit von Katharina Hauer liest, während Lehrbücher des Sozialrechts, die auch die geschichtliche Entwicklung darzustellen pflegen, bei dieser Herleitung versagen.
Und nun zum Buch:
Nach einer Einleitung (A.), in der bereits die veränderte Stellung des Fürsorgeempfängers als Bürger anklingt, referiert Hauer zunächst die Vorgeschichte dieser Entscheidung, die im zweiten Jahr der Rechtsprechungstätigkeit des BVerwG noch im ersten Band der amtlichen Entscheidungssammlung erschienen ist (B.)
Ihr Anliegen beschreibt Hauer in der Einleitung wie folgt: „Ziel dieser Untersuchung soll sein, die Entscheidung zurückzuführen in den damaligen rechtswissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext und die Interpretation der Entscheidung mithilfe des historischen Kontextes zu ermöglichen.“ (S. 14)
Die Beschreibung der Vorgeschichte setzt sinnvollerweise ein beim Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, in der sie die Grundlagen der gesetzlichen Verpflichtung für die Zwangsarmenpflege durch die Gemeinden festmacht (B. I.).
Sodann werden die Rechtsgrundlagen der Fürsorge zum Entscheidungszeitpunkt dargestellt (II.), wobei diese in der Zeit der Weimarer Republik und in einem Bundesgesetz von 1953 verortet werden.
Es werden die einschlägige Rechtsprechung (III.) und die Literatur (IV) referiert, wobei bei der Literatur sinnvollerweise zwischen der Zeit vor 1945 und danach unterschieden wird. An dieser Stellte hätte man allerdings auch noch weiter differenzieren können, weil es zwar zutreffend sein mag, dass im Dritten Reich „autoritäre Strukturen“ betont wurden (S. 24), aber möglicherweise sind die Kontinuitäten hier doch stärker als die Zäsuren, die durch einen solchen Regimewechsel erfolgen. Dazu sind auch die von Hauer zitierten Autoren zu unterschiedlich (Denken wir nur an die zitierten Wilhelm Laforet und Walter Jellinek). Hauer zeigt aber auch auf, dass es bereits in den 1920er Jahren Stimmen gab, die ein subjektives Recht des Fürsorgeempfängers betonten (Diefenbach 1920, unter Hinweis auf einen Autor von 1910). Dass es für die Zeit nach 1945 die Weiterverwendung älterer Lehrbücher gab, wird erwähnt, nicht aber, wann die „neuen“ geschrieben wurden. Aber das ändert nichts an der Leistung der Autorin.
Sie stellt im Teil C ihrer Arbeit die „Neue Rechtsauffassung“ dar, die sich in unterschiedlicher und zum Teil von der älteren Auffassung abweichender Rechtsprechung darstellten (I. S. 45 ff.) und dann auch in der Literatur (II., S. 68 ff.). Hier tritt insbesondere die bedeutsame Abhandlung Otto Bachofs aua der DÖV von 1953 hervor, den Hauer ausführlicher zitiert und der die überkommene Rechtsauffassung eines bloßen Rechtsreflexes bei der Fürsorge als „Residuen obrigkeitsstaatlichen Denkens, die in unserer heutigen Rechtsordnung keinen Platz mehr haben sollten“ zitiert wird (S. 80).
Im Teil D. wird sodann das gesamte verwaltungsgerichtliche Verfahren einschließlich der Vorinstanzen VG Hannover und OVG Lüneburg dargestellt. Darunter werden auch zwei Gutachten zur Entscheidungsvorbereitung referiert, sowie die Änderung der Entscheidung dahingehend, dass die Sache doch zur Entscheidung angenommen, der Nichtzulassungsbeschwerde also stattgegeben wurde. Hauer stellt hier mögliche Gründe für eine Änderung der zunächst geplanten Vorgehensweise durch das BVerwG dar, nämlich zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung von Obergerichten und des BVerfG (III., S. 93 ff.) und hält hierbei abschließend den dem Senat vorgelegten Fall besonders für geeignet (7., S. 99 f.). Enthalten ist auch die Würdigung eines (den Rechtsanspruch befürwortenden) Gutachtens des Bundesinnenministeriums (VI), bevor dann das eigentliche Urteil referiert wird.
Im Urteil weist Hauer auch das erstmalige Auftauchen der von Josef Wintrich bzw. Günter Dürig entwickelten Objektformel zur Auslegung der Menschenwürdegarantie in der Rechtsprechung nach (f), S. 118). In einem Fazit (3.) wird die – letztlich für den Kläger erfolglose – Entscheidung, die den subjektiven und per Klage zu verfolgenden Rechtscharakter des Fürsorgeanspruchs erstmals höchstrichterlich anerkennt, als besonders passend umschrieben, wie damit die befürchteten Auswirkungen auf die öffentliche Hand vermieden wurden. Denn Ermessensfehler wurden nicht festgestellt.
In der Darstellung der unmittelbaren Reaktionen auf die Entscheidung (E.) finden wir vor allem die von Hauer zutreffend gewürdigte Stellungnahme eines ehemaligen Bundesrichters Knoll, der die Entscheidung zwar befürwortete, zwischen den Zeilen aber eindeutig am überkommen Denken festhielt (S. 125 ff.).
Im letzten Abschnitt (F.) über die „Rezeption und Nachhall bis heute“ weist die Autorin unzutreffende Zitierungen des Urteils nach und zeigt nicht zuletzt hierdurch auf, dass die Entscheidung bis heute nicht ausreichend gewürdigt wurde.
Katharina Hauer füllt nun diese gravierende Lücke in der Aufarbeitung der Sozialstaatsentwicklung in Deutschland.
Katharina M. Hauer – Die Fürsorgeentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 1, 159) aus rechtshistorischer Sicht. Schriften zum Sozialrecht, Band 57, Taschenbuch. Nomos Verlag 2020, 152 Seiten, 42 Euro. ISBN-10: 3848768429.