Das monumentale „Handbuch des Verfassungsrechts“ unternimmt eine Darstellung in transnationaler Perspektive
Rüdiger Rath
Was für ein kolossales Werk! Und welch eine verwegene Idee, die diesem zugrunde liegt! Unter Federführung der herausgebenden Professoren Matthias Herdegen, Klaus Ferdinand Gärditz (beide Bonn), Johannes Masing und Ralf Poscher (beide Freiburg) ist ein (weiteres) Handbuch des deutschen Verfassungsrechts entstanden, das – wie es im Vorwort der Herausgeber heißt – gleichwohl eine bislang bestehende Lücke schließt, indem es „die transnationalen Bezüge des Verfassungsrechts systematisch in den Vordergrund stellt und dabei das deutsche Recht mit Blick auf einen transnationalen Austausch international einzuordnen sucht“.
Man kann sich das In zwei Richtungen vorstellen: Einerseits ist das deutsche Verfassungsrecht selbstverständlich immer auch inter- und supranationalen Einflüssen ausgesetzt gewesen und hat solche aufgenommen: „Gerade auch in der jüngeren Verfassungsrechtsprechung wird deutlich, dass das Grundgesetz nicht mehr allein aus sich heraus verstanden werden kann, sondern in einem Mehrebenensystem inter- und supranationaler Regelungen steht, in dem es sich immer wieder neu verorten und den Wechselwirkungen Rechnung tragen muss.“ Doch dies ist natürlich nie eine Einbahnstraße gewesen: Das Grundgesetz seinerseits wirkt ebenso „in den internationalen Raum hinein“. Auch andere Verfassungsordnungen haben Entwicklungen im deutschen Verfassungsrecht – „oft im Sinne einer filternden Rezeption“ – aufgenommen.
Dem Rechnung tragend versucht nun dieser Band einen „selbstdistanzierenden Blick“ auf das deutsche Recht und soll so nicht zuletzt auch ausländischen Lesern „den Zugang zum deutschen Verfassungsrecht erleichtern“. Damit dies aber nicht schon an der sprachlichen Hürde scheitert, wird in Kürze zusätzlich auch noch eine englische Fassung dieses Werkes erscheinen. Die Liste der Mitwirkenden liest sich wie ein Who is Who des deutschen Verfassungsrechts. Noch dazu haben die Autoren vielfach die Anregungen eines ebenso hochkarätigen ausländischen Beraterkreises befolgt.
Das Werk ist in fünf große Abschnitte unterteilt. Auf die sehr lesenswerte Einleitung der Herausgeber folgt das Kapitel „Grundlagen“, das vier längere Abhandlungen über die Stellung unseres Grundgesetzes in der westlichen Rechtstradition enthält. Darauf folgt das Kapitel „Verfassungsprinzipien“ mit wiederum sehr umfangreichen und detaillierten Schilderungen von Demokratie-, Rechtsstaats-, Sozialstaats- und Bundesstaatsprinzip. Anschließend nehmen die Kapitel „Staatsorganisation“ und „Grundrechte“ besonders breiten Raum ein. Sie bilden gewissermaßen das Herzstück dieses Werkes, wobei besonders die Ausführungen zur Menschenwürde von Ralf Poscher hervorzuheben sind. Das abschließende Kapitel widmet sich den „Teilordnungen der Verfassung“, also Finanzverfassung, Medienverfassung, Umweltverfassung, Außen- und Wehrverfassung sowie Sicherheitsverfassung.
Egal, wohin man blättert, man kann sich überall schnell festlesen, wenngleich es doch fraglich erscheint, ob wirklich jemand die 1837 Seiten in einem Zuge durchlesen wird. Die wahre Bestimmung dieses Handbuchs sollte ja auch vielmehr darin liegen, dass sich etwaige Interessenten in Rom oder Madrid schnell einen Überblick über die Rolle der Gleichheitsrechte im deutschen Verfassungsrecht verschaffen können. Oder – was rechtspolitisch noch viel bedeutsamer wäre – jemand in Warschau oder Budapest über die Teilung der Staatsgewalten. Oder irgendwer aus Ankara über das deutsche Religionsverfassungsrecht, und womöglich gibt es ja eines Tages sogar Interessenten aus Kabul oder Riad. Von Deutschland lernen, heißt Rechtsstaat lernen. So darf man es zumindest hoffen, und einen Versuch ist es allemal wert. Wir wünschen dem Buch viel Erfolg auf seiner Mission!
Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz
Handbuch des Verfassungsrechts. Darstellung in transnationaler Perspektive
Verlag C.H. Beck 2021
1837 Seiten; 249 Euro
ISBN: 978-3-406-73850-0