Recht historisch Spezial: Eine Geschichte aus der Schulzeit in der DDR
Thomas Claer
Vor 40 Jahren bin ich der Tochter Ernst Thälmanns begegnet. So lange dürfte das nun ungefähr zurückliegen, denn ich muss damals in der vierten Klasse gewesen sein. Wir waren schon Thälmann-Pioniere und trugen daher rote Halstücher zu unseren weißen Pionierhemden, nicht mehr die blauen Halstücher der Jung-Pioniere. Aber es war noch unter unserer alten strengen Klassenlehrerin, noch nicht unter der neuen, deutlich netteren Lehrerin, die erst ab der fünften Klasse für uns verantwortlich werden sollte.
Im Refrain eines Pionierlieds, das wir zu jener Zeit häufig und nicht nur im Musikunterricht singen mussten, hieß es:
„Seid bereit, ihr Pioniere! Lasst die jungen Herzen glühn!
Seid bereit, ihr Pioniere, wie Ernst Thälmann, treu und kühn!“
Auch wurde uns immer wieder auf den Fahnenappellen das „Gelöbnis der Thälmann-Pioniere“ eingetrichtert, das da lautete:
„Ernst Thälmann ist mein Vorbild. Ich gelobe, zu lernen, zu arbeiten und zu kämpfen, wie es Ernst Thälmann lehrt. Ich will nach den Gesetzen der Thälmannpioniere handeln. Getreu unserem Gruß bin ich für Frieden und Sozialismus immer bereit.“
Und neben den Ständern mit den Mikrophonen für die Ansprachen war dann immer ein ziemlich großes Bild aufgebaut, das sonst im Treppenhaus unserer Schule hing und Ernst Thälmann (1886-1944), den von den Nazis im KZ ermordeten kommunistischen Arbeiterführer, mit stolzem strahlenden Blick zeigte. Zwar glaubte ich damals längst nicht mehr alles von der Propaganda, die uns in der Schule so aufgetischt wurde. Aber die Geschichten über Ernst Thälmann und vor allem das besagte Porträt von ihm hatten ihre Wirkung auf mich nicht verfehlt. Sehr charismatisch kam er mir auf diesem Foto vor, das natürlich reichlich geschönt war, wenn man es heute mit den anderen Fotos von ihm vergleicht, die einem auf „Google Bilder“ angezeigt werden. Doch warum hätten es die damaligen Agitatoren der Weltrevolution schlechter machen sollen als die heutigen Influencer auf Instagram?
So kam es, dass ich mit freudiger Erregung reagierte (und wohl nicht nur mir ging es so), als uns unsere strenge Lehrerin eines Tages verkündete, dass unsere Schule, die den Namen „Ernst-Thälmann-Oberschule“ trug, prominenten Besuch erwartete: Die leibhaftige Tochter Ernst Thälmanns hatte sich angekündigt. Und das Beste daran war: Sie sollte ausgerechnet in unsere Klasse kommen. Welch eine Ehre für uns! Wir stellten uns Irma Gabel-Thälmann, wie sie mit vollständigem Namen hieß, als eine Art Lichtgestalt vor. Unsere Lehrerin erklärte uns, dass sie mit einem Herrn Gabel verheiratet sei, daher ihr Doppelname. Immer wieder lasen wir im Unterricht die Auszüge aus ihrer Autobiographie in unserem Lesebuch: Wie sie ihren Vater im KZ besucht hat und es ihr gelungen ist, ihn dabei heimlich zu fotografieren. Solche Sachen… Als der große Tag näher rückte, sorgte unsere strenge Lehrerin dafür, dass alles bis ins kleinste Detail vorbereitet wurde. Einige von uns sollten im Gespräch mit Irma Gabel-Thälmann Fragen an sie richten. Ich meldete mich und schlug vor, sie zu fragen, wie es ihr gelungen sei, ihren Vater heimlich im KZ zu fotografieren. Das fand unsere strenge Lehrerin sehr gut, woraufhin sie mir ihre Erlaubnis dazu erteilte, unserem berühmten Gast diese Frage zu stellen.
Endlich war der Tag gekommen. Doch welche Enttäuschung war es für mich (und bestimmt auch für viele meiner Mitschüler), als dann Irma Gabel-Thälmann unser Klassenzimmer betrat und das Wort an uns richtete. „Das soll die Tochter Ernst Thälmanns sein?!“, raunte mein Freund Olli mir zu. Und er fügte noch hinzu: „Das kann ich nicht glauben.“ Mir ging es ganz ähnlich. Vor uns stand eine korpulente ältere Dame mit blecherner Stimme in Begleitung eines noch älteren Herrn. Das war Herr Gabel, der wohl auf allen ihren Vortragsreisen mit dabei war. Anschließend erzählte sie uns dann noch einmal all das, was wir schon wussten. Wie alle anderen Fragesteller konnte auch ich meine vorbereitete Frage anbringen, wie es ihr gelungen sei, ihren Vater heimlich im KZ zu fotografieren, woraufhin sie uns jedoch nicht mehr erzählte, als wir zuvor schon darüber gelesen hatten, nämlich nur, dass sie ihren Vater heimlich im KZ fotografieren konnte, aber nicht, wie genau sie dies angestellt hatte.
Doch dann passierte etwas Unerwartetes. Herr Gabel, für den es offenbar schrecklich langweilig war, immer wieder aufs Neue die immer gleichen Geschichten von seiner Frau anhören zu müssen, hatte sich in die letzte Bankreihe neben Michi gesetzt, der einer unserer schwächsten Schüler war, aber gerne mal den Unterricht störte. Und nun machten doch tatsächlich Herr Gabel und Michi fortwährend gemeinsam Faxen und störten den Vortrag der Tochter Ernst Thälmanns. Und unsere strenge Lehrerin machte dabei ein wütendes Gesicht, durfte aber nichts dagegen sagen, da es ja der Ehemann der Tochter Ernst Thälmanns war, der da zusammen mit Michi unablässig herumkasperte. Wir alle, außer unserer strengen Lehrerin, fanden das sehr lustig.
Sieben Jahre später fiel dann die Mauer, und die DDR war bald darauf Geschichte. Irma Gabel-Thälmann (1919-2000), die in der DDR hauptberuflich als Funktionärin des Demokratischen Frauenbundes der DDR (DFD) tätig war, trat nach der Wende enttäuscht aus der SED-Nachfolgepartei PDS aus und schloss sich der 1990 wiedergegründeten KPD an, für die sie bei der Bundestagswahl 1994 im Wahlkreis Berlin-Lichtenberg kandidierte und immerhin 266 Stimmen gewann. Schließlich wurde sie am 9. Januar 2001, wie es sich für eine zünftige Altkommunistin gehört, auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in der Gedenkstätte der Sozialisten bestattet.