Das Handbuch von Dieners in 4. Auflage
Matthias Wiemers
Das Gesundheitswesen ist der einzige Gesellschaftsbereich, der über zwei verschiedene Bedeutungen des häufig als Modebegriff erscheinenden Begriffs der Compliance verfügt.
Herkömmlich versteht im Gesundheitswesen unter der Compliance die Therapietreue des Patienten, also die Frage, inwieweit er dem folgt, was er mit seiner Ärztin oder seinem Arzt vereinbart hat. Früher wurde dieses Problem gesundheitspolitisch etwa stärker unter Kostengesichtspunkten diskutiert, also bei der Frage, welche Ressourcen damit verschwendet werden, wenn Patienten bestimmte Packungsgrößen von Medikamenten verordnet bekamen und dann einen Teil der Packung nicht einnahmen, Heute, wo angesichts zunehmender Informationsmöglichkeiten gerade über das Internet und (formal) zunehmendem Bildungsniveau der Patienten die Autorität der Weißkittel nicht mehr so groß ist, besteht die Gefahr auch darin, dass Dosierungsvorgaben der Ärzte nach unten hin angepasst werden – nach dem Motto: mündiger Bürger und mündiger Patient.
Auch in der gesundheitspolitischen Debatte nach vorne geschoben hat sich aber ein anderer Compliance-Begriff auch im Gesundheitswesen, den man ganz einfach als „Regeltreue“ bezeichnen kann. Die damit gemeinte Befolgung von für das Gesundheitswesen relevanten Regeln durch die Akteure des Gesundheitswesens selbst – nicht die Patienten – umfasst mehr als bloße Gesetzesreue, sondern eben auch solche von Fachgesellschaften oder das Berufsrecht. Zentral sind allerdings gerade für die Bekämpfung der so genannten Korruption im Gesundheitswesen geschaffene spezielle Straftatbestände im StGB.
Seit 2004 gibt der Düsseldorfer Rechtsanwalt Peter Dieners das hier vorzustellende Handbuch heraus und wird dabei von fast ausschließlich Düsseldorfer Kolleginnen und Kollegen verschiedener Großkanzleien unterstützt.
Der Herausgeber schildert im 1. Kapitel zunächst die „Ausgangssituation, die auch zur Einführung der besonderen Straftatbestände §§ 299 a und 299 b StGB zur Bekämpfung von Bestechlichkeit und Bestechung im Gesundheitswesen geführt haben. Dieners betont dabei zu recht die gegenseitige Angewiesenheit auf Zusammenarbeit sowohl seitens der Hersteller von Medizinprodukten und Arzneimitteln wie auch von Forschungseinrichtungen und staatlichen Stellen der Forschungsförderung mit Ärzten und Kliniken. Er zeigt auch auf, dass ein gewisser Ausgangspunkt in dem so genannten Herzklappenskandal des Jahres 1994 zu erblicken ist, der seinerzeit die Staatsanwaltschaft Wuppertal federführend beschäftigte uns die bereits zu einer Veränderung der Korruptionsdelikte im StGB im Jahre 1997 führte. Die Verunsicherung der Beteiligten über künftig mögliche Formen der Zusammenarbeit habe dies eher noch verschärft. Das fortbesehende Spannungsverhältnis, wie es Dieners ausführlich beschreibt, zwischen der notwendigen Vermeidung des Eindrucks der Käuflichkeit ist mit den neuen Vorschriften auf alle Angehörigen von Heilberufen erstreckt worden. Dies macht deutlich, wie zentral die Themen dieses Handbuchs für die Angehörigen des Gesundheitswesens sind.
Cahnbleym Dieners, Reese und Taschke spannen in Kapitel 2 einmal die gesamte Breite der einschlägigen Rechtsvorschriften auf, die die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit der Industrie mit Mitarbeitern medizinischer Einrichtungen und niedergelassenen Ärzten regeln, vom Strafrecht über das öffentliche Dienstrecht, Das Sozial- und das Wettbewerbsrecht bis hin zum ärztlichen Berufsrecht. Die allgemein ebenfalls zu verwirklichenden Tatbestände wie § 263 oder § 266 StGB werden nur erwähnt, die Erläuterung beginnt bereits mit den Amtsträgerdelikten der §§ 331 ff. StGB. Ansonsten werden im Dienst- und Hochschulrecht etwa das Nebentätigkeitenrecht und im wettbewerbsrecht neben dem UWG vor allem die Spezialvorschrift § 7 HWG behandelt. Im Sozialrecht ist von besonderer praktischer Relevanz das so genannte Depotverbot nach § 128 Abs. 1 SGB V, wonach Vertragsärzte und Krankenhäuser mit Ausnahme der Notfallversorgung keine Hilfsmitteldepots errichten dürfen.
Das wieder sehr knappe 3. Kapitel stammt wieder aus der Feder von Dieners, der hier „Problemlagen in der Praxis“ darstellt. Er zeigt hier die regelmäßigen „Problemprojekte“ auf und nimmt dann im Anschluss jeweils die Perspektive der Akteure Industrie, Krankenhäuser und Ärzte ein. Die Problembereiche sind:
Klinische Prüfungen und Leistungsbewertungspüfungen, Anwendungsbeobachtungen, Beratungsverhältnisse, Referententätigkeiten, „Sponsoring“ und Geräteüberprüfungen.
Ein deutlich umfangreicheres Kapitel, ebenfalls aus der Feder von Dieners, behandelt sodann die „Problembewältigung durch Branchenverbände“. Ohne hier auf Details eingehen zu können, zeigen sich hier zwei Dinge sehr deutlich: Dass Verbände nicht nur als reine Vertreter egoistischer Partikularinteressen betrachtet werden müssen, sondern durch Verbändevereinbarungen durchaus auch Impulse zur Gemeinwohlverwirklichung setzen, indem sie nämlich im Allgemeininteresse das Verhalten ihrer Mitglieder verbindlich regulieren und Verstöße auch sanktionieren. Gleichzeitig ist dies ein bedeutendes Beispiel für „private Rechtsetzung“, die auch vielen Juristen nicht bewusst ist. Dieners zeigt die einschlägigen Verhaltenskodizes auf, die die oben genannten Bereiche der Zusammenarbeit betreffen.
Im nächsten Kapitel („Grundlagen der Kooperation“) zeigt Dieners gewissermaßen die Quintessenz des Kapitels 3 auf, indem er aus den dort aufgezeigten Regelungen insgesamt vier Prinzipien herauspräpariert, die nach hiesiger Einschätzung für die Praxis leichter zu handhaben sein könnten als die direkte Gesetzesanwendung. Dieners nennt sie auch „vier zentrale Grundsätze, deren Einhaltung die bestehenden rechtlichen Risiken ausschließen bzw. weitgehend minimieren soll.“
Dies sind: Trennungsprinzip, Transparenz-/Genehmigungsprinzip, Äquivalenzprinzip und Dokumentationsprinzip. Diese werden wieder in aller Kürze erläutert.
Dieners und Cahnbley liefern im sechsten Kapitel praktische Hinweise zur Gestaltung ausgewählter Kooperationsformen, wobei am Ende noch einmal in einer Tabelle überblicksmäßig aufgeführt wird, welche Vorschriften bei diesen typischen Kooperationsformen zu beachten sind.
Nicht fehlen darf bei jedem Handbuch zur Compliance die Beantwortung der Frage, wie Compliance konkret in der Praxis zu operationalisieren ist. Daher liefern hier Dieners und Lehmbeck in Kapitel 7 einen Beitrag zu „Compliance-Management in der betrieblichen Praxis. Das Kapitel beschränkt sich nicht darauf, notwendige Elemente des Aufbaus einer Compliance-Organisation zu beschreiben, sondern zeigt auch „Umsetzungsprobleme und -defizite“ sowie Lösungsmöglichkeiten zu deren Beseitigung auf.
Zedtwitz von Arnim und Cahnbley zeigen sodann, wie man praktisch mit internen Untersuchungen (Kapitel 9) umgeht, bevor in mehreren Kapiteln die Anforderungen einzelner Rechtsgebiete an Kooperationen im Gesundheitswesen formuliert werden, und zwar „Steuerrechtliche Fragen“ (Kapitel 10, Lehmbeck/Menner), „Kartellrechtliche Compliance“ (Kapitel 11, Besen), „Datenschutzrechtliche Compliance“ (Kapitel 12), wobei das von Gunnar Sachs verfasste Kapitel über den Datenschutz neu in den Band gekommen ist. Speziell mit „Lobbying“ befassen sich Dieners und Voland (Kapitel 13).
Der Verband Forschender Arzneimittel-Hersteller (VfA) hat bereits 2004 einen neuen Verein zur freiwilligen Selbstkontrolle ihrer Mitglieder gegründet, der einen „FSA-Kodex“ zur Verhaltenssteuerung geschaffen, der in Kapitel 14 von Dieners und Kemmner auf gut 300 Seiten erläutert wird. Im Zentrum des nächsten Kapitels steht der bereits 2008 beschlossene FSA-Kodex Patientenorganisationen, der sich des Problems annimmt, dass sich die zahllosen Selbsthilfeorganisationen von Patienten in Deutschland häufig dem beeinflussenden Sponsoring der Industrie ausgesetzt sehen (Bearbeiter: Reese). Thema von Kapitel 16 ist der FSA-Kodex zur Transparenz bei der Zusammenarbeit mit den angehörigen der Fachkreise und medizinischen Einrichtungen (Dieners/Thole).
Der Verein „Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie e. V.“ (FSA) arbeitet nach einer Verfahrensordnung, die Gegenstand von Kapitel 17 ist und die auf gut 100 Seiten erläutert wird (Dieners/Reese). Da die FSA auch ein Schiedsgericht beinhaltet, das nach dieser Verfahrensordnung arbeitet, schließt der Band mit einem Register der Spruchpraxis des FSA.
Wenn wir ein Fazit ziehen wollen, so lässt sich feststellen, dass der Band eine bestimmte Marktnische wohl wirksam geschlossen hat. Es genügt eben in der Praxis oft nicht, einfach in einschlägige Kommentierungen des StGB hineinzuschauen, da der Praktiker den genaueren Kontext seiner Branche beschrieben zu werden wünscht. Durch die Dominanz des VfA und seines FSA könnten sich Nichtmitglieder abgeschreckt fühlen, weil die Kodizes für sie formal nicht gelten. Gleichwohl können sich auch Nichtmitglieder an dem Band orientieren. Der VfA, der die zugleich finanz.- und forschungsstarken Unternehmen vereinigt, hat mit seinem FSA einen Weg gefunden, die bestehenden Konkurrenzverhältnisse zwischen den Mitgliedern auch im Bereich des Lobbyings und der Öffentlichkeitsarbeit zu einem fairen Ausgleich zu bringen. Der recht geringe Kaufpreis für den Band lädt allerdings auch weitere Kreise zu seiner Nutzung ein.
Wenn hier ausgangs von einem möglichen Modebegriff gesprochen wurde, so ist dies zu präzisieren: Wie schon angedeutet wurde, ist Compliance nicht ohne Compliance Management denkbar. Und Management wird häufig eher von Betriebswirten und Ingenieuren beherrscht; der Jurist lernt dies in seiner Ausbildung nicht. Der Trend zum Compliance-Management hat sich als nicht als bloße Modeerscheinung erweisen, er ist ungebrochen. Wollen es Juristen vermeiden, dass ihre Stellen künftig von Betriebswirten besetzt werden, müssen sie sich damit beschäftigen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass es zunehmend auch Spezialstudiengänge gibt, die sich speziell mit solchen Fragen auseinandersetzen, die im hier vorgestellten Handbuch nur beispielhaft für die Pharma- und Medizinprodukteindustrie aufgezeigt wurden.
Dieners – Compliance im Gesundheitswesen. Handbuch, Verlag C.H. Beck, 4. Aufl. 2022, 980 Seiten, 109 Euro, ISBN 978-3-406-65692-7