Vor einem Jahr erschien “Nie wieder Krieg” von Tocotronic. Eine verspätete Rezension
Thomas Claer
Als im Januar 2022 die Band Tocotronic ihr 13. Studio-Album “Nie wieder Krieg” herausbrachte, da dachte man: Was soll denn das jetzt? Warum bloß ein so pathetischer und völlig aus der Zeit gefallener Titel?! Sind wir jetzt in den Achtzigern, oder was? Als ob irgendwo ein Krieg vor der Tür stünde… Na gut, es gibt natürlich schon eine Menge Kriege in der Welt, aber doch nicht hier bei uns, mitten in Europa…
Kurz darauf wurde man bekanntlich durch Putins Überfall auf die Ukraine aus allen Wolken gerissen und musste bei Tocotronic Abbitte leisten. Sie hatten es vielleicht nicht gerade kommen sehen, aber doch irgendwie… Wenn es nicht so despektierlich klänge, könnte man fast sagen: den richtigen Riecher gehabt. Kunstwerke sind ja, wie es so schön heißt, oftmals klüger als die Künstler, die sie in die Welt gesetzt haben. Und nicht nur der Titel- und zugleich Eröffnungssong trifft textlich den Nagel auf den Kopf (“Keine Verhetzung mehr!”), auch der darauffolgende Track “Komm mit in meine freie Welt” wirkt seltsam prophetisch, ebenso wie das Lied danach “Jugend ohne Gott gegen Faschismus”. Und es geht ja noch weiter mit Songtiteln wie “Ich gehe unter”, “Ich hasse es hier”, “Ein Monster kam am Morgen” und “Crash”. Noch mehr Zeitgeist auf einer Platte als hier lässt sich kaum vorstellen!
Soweit zur inhaltlichen Seite von Tocotronics aktuellem Album. Aber ist es denn auch künstlerisch gelungen? Nun, zumindest über weite Strecken. Musikalisch eher schwach geraten sind eigentlich nur der besagte Titelsong sowie die beiden letzten Stücke “Hoffnung” und “Liebe”. Der Rest ist ziemlich überzeugend, allen voran “Ich tauche auf”, das gesangliche Duett von Bandleader Dirk von Lowtzow mit Soap & Skin, worunter sich eine 33-jährige recht anmutige österreichische Sängerin verbirgt. Die beiden liefern hier den vielleicht schönsten und ergreifendsten Paargesang in der Popmusik seit Nick Cave und PJ Harvey ab. Andere würden vielleicht sagen: seit Nick Cave und Kylie Minogue… Und dies gilt ausdrücklich auch für das begleitende Musikvideo!
Es gibt aber auch noch weitere starke Titel auf “Nie wieder Krieg”, die interessanterweise auf jeweils unterschiedliche Schaffensphasen der einstigen Hamburger-Schule-Band verweisen. “Ich gehe unter” und “Leicht lädiert” klingen wirklich sehr nach ihrem Frühwerk, besonders letzteres in seiner ungelenken Fremdwörter radebrechenden Textdichtung. Ganz toll! “Crash” hingegen mit seinem Smiths-Gitarrenspiel erinnert deutlich an ihre entsprechend ausgerichtete Phase in den mittleren bis späten Nullerjahren mit dem Album “Kapitulation”. Vielleicht sind dies ja in Wirklichkeit auch Lieder von damals, die es seinerzeit nur nicht aufs jeweilige Album geschafft haben. Aber was macht das schon? Überaus raffiniert ist auch der Text von “Nachtflug”. Zuerst vermutet man darin eine üble Klima-Sauerei mitsamt Anwohner-Belästigung, bis sich allmählich herausstellt, dass das lyrische Ich wohl nur rein metaphorisch durchs Berliner Nachtleben fliegt…
Alles in allem also mal wieder eine reife Leistung der Tocos. Das Urteil lautet: gut (13 Punkte).
Tocotronic
Nie wieder Krieg
Vertigo Berlin 2022