Vor 60 Jahren kam das amerikanische Historiendrama „Gesprengte Ketten“ mit Steve McQueen als Hauptdarsteller in die westdeutschen Kinos und begeistert bis heute das Publikum. Der wahre Ort des Geschehens, ein ehemaliges NS-Kriegsgefangenenlager, befindet sich heute in Zagan in Westpolen und ist vor allem im Sommer ein Touristenmagnet
Benedikt Vallendar
Noch immer ist der Verlauf des Fluchttunnels „Harry“ im früheren deutschen Kriegsgefangenenlager Stalag Luft III zu sehen, unweit einer Bahntrasse, mitten im Gewerbegebiet von Zagan in Westpolen. Zwei weitere Tunnel sollten die deutschen Bewacher zwischen 1943 und 1944 im Falle der Entdeckung vom eigentlichen ablenken. Die Tunnel sind längst zugeschüttet und nur noch auf alten Zeichnungen erkennbar. Zagan ist heute eine beschauliche Kleinstadt und zugleich Standort US-amerikanischen Militärs im Rahmen diverser NATO-Missionen. Heerscharen von Touristen aus aller Welt bevölkern alljährlich den kleinen Ort. Denn in Zagan wurde Geschichte geschrieben, als in der Nacht vom 24. zum 25. März 1944 gleich mehreren Dutzend kriegsgefangener alliierter Soldaten der Sprung in die Freiheit gelang; eine Freiheit, die nur kurze Zeit währte, da die meisten geschnappt und – auf persönlichen Befehl Hitlers – von der Gestapo erschossen wurden. Vier Insassen schafften es bis Schleswig-Holstein, wo sie am 29. März 1944 – in Handschellen gefesselt – ebenfalls erschossen wurden. Nur dreien gelang tatsächlich die Flucht, so dass die Forschung recht gut über die Umstände ihres Entkommens im Bilde ist. Auch die Justiz hat davon profitiert. Denn nach dem Krieg wurden 13 Täter von britischen Gerichten zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Der Ort des früheren Nazi-Lagers ist bis heute eine unwirtliche Gegend, rund 50 Kilometer vor der deutschen Grenze, vor allem im Herbst, wenn Nässe und Kälte die Besucher spüren lassen, wie es hier im Krieg ausgesehen haben muss, als Gefangene, politische Gegner und Fremdarbeiter in langen Kolonnen durch die Stadt geführt wurden, woran sich später kaum wer mehr erinnern wollte. Geschäfte, Supermärkte und halb sanierte Plattenbauten aus kommunistischer Zeit verdecken heute das, was sich hier zur Zeit des Nationalsozialismus abgespielt haben dürfte, als Europa mit Lagern übersät und jeder Fluchtversuch mit dem Tode bedroht war.
Verklärte Geschichte
Unablässig geistert seit Kriegsende der „Mythos von Zagan“ durch die Literatur. Eifrig befleißigen sich Illustrierte, Bücher und Fachmagazine damit, die abenteuerliche Flucht aus dem früheren Kriegsgefangenenlager immer wieder neu und noch a bisserl spannender zu erzählen, als sie in Wirklichkeit war. Was kaum bekannt ist: „Die Gefangenen haben über mehrere Monate unter erheblicher Anspannung gelebt“, sagt der russische Historiker Ivan Timirev, der über die deutsch-polnischen Beziehungen in den 1930er Jahren geforscht hat und heute mit seiner Familie in Kaliningrad lebt. „Sie mussten damit rechnen, dass die SS von ihren Plänen Wind bekam und die Flucht vereiteln würde“, sagt er. Die Männer wollten die Freiheit, heim zu Frau und Kind, und kaum wer dürfte den Ehrgeiz gehabt haben, einen Heldentod zu sterben, so Timirev. Die Gefangenen stammten unter anderem aus den USA, Großbritannien, Norwegen, und Australien. Alljährlich werde ihrer in den Heimatländern gedacht, sagt der Fremdenführer, ein Geschichtsstudent aus Krakau während seine Gruppe durch den Nachbau des ehemaligen Lagers spaziert und anschließend hinüber zu den steinernen Überresten am Originalschauplatz, um den sich heute Kiefern, Birken und Buchen gruppieren.
Werkstatt unter Tage
Das Fluchtdrama vom März 1944 mit unterirdischer Tischlerwerkstatt und ausgeklügelter Belüftungsanlage rief nach Kriegsende schon bald Hollywood auf den Plan. Vor sechzig Jahren dann, im Herbst 1963 kam der Streifen „Gesprengte Ketten“ in die westdeutschen Kinos und begeistert als Filmklassiker mit dem Prädikat „wertvoll“ bis heute die Gemüter. Die Dreharbeiten mit Steve McQueen in der Hauptrolle des Gefangenen Captain Virgil Hilts hatten 1962 in Süddeutschland begonnen, weil für die Produktionsfirma der Weg durch den eisernen Vorhang verschlossen war. Als Komparsen in den Uniformen deutscher Bewacher dienten seinerzeit Anwärter aus einer bayerischen Polizeikaserne. Hauptdarsteller Steve McQueen starb bereits 1980, nach einem bewegten Leben mit Alkohol, Drogen und wechselnden Frauenbekanntschaften.
Alljährliches Gedenken
Bis heute ist in Zagan Militärisches spürbar. Kasernen, ausrangierte Artilleriekanonen und Weltkriegspanzer säumen den Weg von der Innenstadt zur Gedenkstätte, ebenso Fahnen und Denkmäler. Auch Uniformierte und deren Familienangehörige prägen das Stadtbild. Alljährlich im Herbst legen Veteranenverbände Kränze nieder, im Gedenken an die gefallenen Kameraden und sonstigen Opfer des Krieges.
Im Mai 1945, nach der deutschen Kapitulation waren Zagan und alle Gebiet östlich der Oder-Neiße-Linie unter polnische Verwaltung gekommen. Ihren Besitzanspruch unterstreichen manche Neubewohner bis heute durch das Hissen der polnischen Nationalfahne. Und dennoch: Jenseits aller weiß-roten Beflaggung ist in Niederschlesien kaum mehr etwas von Ressentiments gegen Deutsche zu spüren, zumal die Grenzen offen sind und Polen seit 2004 zur EU gehört. Nur unterschwellig reagieren die höchst gastfreundlichen Niederschlesier ein wenig sensibel, wenn das „historische Erbe“ zur Sprache kommt, was auch die polnische Autorin und mit einem aus der DDR stammenden Deutschen verheiratete Karolina Kuszyk in ihrem Sachbuch „In den Häusern der anderen“ (Ch. Links Verlag Berlin) von 2020 hinreichend dokumentiert hat. Nicht nur deshalb empfiehlt es sich, das Thema der deutschen Vergangenheit lieber unerwähnt zu lassen, da die Reaktionen polnischer Gastgeber nicht immer vorhersehbar sind. Und apropos Gäste: „Wir haben mitunter Besucher aus Asien und Übersee“, sagt die freundliche Dame an der Museumspforte in Zagan in gebrochenem Englisch und verweist auf das Gästebuch, in dem auch Kommentare in kyrillischen und chinesischen Buchstaben sowie auf Spanisch zu lesen seien; was zeigt, dass die Massenflucht aus Zagan seit dem Kinofilm von 1963 nicht nur hier, sondern rund um den Erdball wahrgenommen wurde – und wird.
Fotos:BV